Analyse von Begleittexten am Beispiel von 103 EthnografienFabienneKilchörfabienne@emphase.ch1212336186Emphase SàrlJörgLehmannjoerg.lehmann@uni-tuebingen.de10547323100000-0003-1334-9693Eberhard Karls Universität Tübingen10.17175/2020_003_v218153214662020.003_v2http://www.zfdg.de/node/34717.07.202002.09.2022Zeitschrift für digitale GeisteswissenschaftenPubliziert vonHerzog August BibliothekTransformation der Word Vorlage nach TEIBaumgartenMarcus1192832655
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20203Elektronische Ausgabe nach TEI P5Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel10.17175/zfdg.010819494402Herzog August BibliothekLessingplatz 138304 WolfenbüttelForschungsverbund Marbach Weimar WolfenbüttelBurgplatz 499423 Weimar
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GeisteswissenschaftenText in DeutschAbstract in DeutschAbstract in EnglischDatenerhebungEthnografieLiteraturwissenschaftParatextTextanalyse
Es wurden folgende Änderungen vorgenommen: Inhaltliche Anpassungen, wie sie von
den Gutachten angemerkt worden sind. Aktualisierung und Ergänzung der
bibliographischen Angaben. Formale Korrekturen.
Die vorliegende Studie präsentiert und erprobt eine Methodik, mit der die
Paratexte eines mittelgroßen Textkorpus erfasst und analysiert werden. Zunächst
wird eine Einführung in die Erzähltheorie gegeben, dann werden die einzelnen
methodischen Schritte zur Erfassung der unterschiedlichen paratextuellen und
textuellen Signale ausführlich dargelegt. Deren Quantifizierung ermöglicht ein
Clustering und damit die Zusammenfassung der
untersuchten Texte in Gruppen. An einem Korpus von 103 wissenschaftlichen
Ethnografien wird beispielhaft vorgeführt, zu welchen Ergebnissen die Analyse
von Paratexten führen kann. Sie zeigt, dass ethnografisches Schreiben im 20.
Jahrhundert zwischen einer wissenschaftlichen Darstellung einerseits und einer
autobiografischen Erzählform andererseits changiert. Die Analyse nimmt dabei
sowohl das Textkorpus als Ganzes in den Blick als auch die Entwicklungen im
Zeitverlauf. Hieran lässt sich die Geschichte der Disziplin nachvollziehen, die
das forschende Subjekt zunächst passiv als neutrale*n Beobachter*in konzipiert hat und
erst in jüngerer Zeit als aktiv interagierende Persönlichkeit präsentiert. Der
Schlussteil diskutiert Möglichkeiten zur Automatisierung der Datenerhebung
sowie den Einsatz von machine learning-Verfahren. Das
Potenzial von Paratextanalysen, Einsichten in die sich seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert vollziehende funktionale Ausdifferenzierung der
Darstellungskonventionen zu gewähren, wird so umrissen.
This study presents and tests a methodology with which the paratexts of a
medium-sized text corpus are recorded and analysed. In the first part, the
theory is introduced, then the separate methodical steps for the acquisition of
the different paratextual and textual signals are explained in detail. Their
quantification allows the clustering of the collected data and thus the
grouping of the texts under study. A corpus of 103 scientific ethnographies is
used as an example to demonstrate the results to which the analysis of
paratexts can lead. This shows that ethnographic writing in the 20th century
oscillates between a scientific presentation on the one hand, and an
autobiographical presentation on the other. The analysis focuses both on the
text corpus as a whole and on developments over time, which allows to trace the
history of the discipline, that had initially conceived the subject of the
researcher passively as a neutral observer. It has more recently been presented
as an active personality acting and interacting in a social environment. The
final part of the study discusses possibilities for automated data collection
and the use of machine learning methods. The potential of paratextual analyses
to provide insights into the functional differentiation of conventions of
representation is thus outlined.
1. Einführung
Wir denken uns einen Leser, der eine Buchhandlung betritt. Er steuert auf ein Regal
zu, das beispielsweise mit »Geschichte« annonciert wird, und nimmt aufs Geratewohl
einige Bücher heraus. Innerhalb von wenigen Minuten kann er entscheiden, ob er eine
Autobiografie, einen historischen Roman oder ein wissenschaftliches Werk vor sich hat
– und das, obwohl weniger als ein Viertel aller Bücher über einen Genrehinweis
verfügt. Vgl. hier Underwood et al. 2013. Dieser Artikel
basiert auf der Auswertung von rund 470.000 Werken in der digitalen Bibliothek
HathiTrust. Ähnlich verhält es sich bei literarischen Werken. Klappentexte
und weitere Hinweise informieren ihn über Form und Inhalt der Bücher. Zweifellos
beherrscht unser Leser eine Kulturtechnik, die er sich im Laufe seines Lebens
angeeignet hat. Signale im Text, und vor allem an den Texträndern, unterstützen ihn
bei seiner Einschätzung.
Wie funktioniert dieser Prozess genau? Lassen sich die Signale, die der Text
aussendet, kategorisieren, erfassen und systematisch auswerten? Wie könnte ein
Arbeitsablauf dafür aussehen? Zu welchen Erkenntnissen kann eine solche
kurzfristig-oberflächliche Analyse von Texten führen, wenn ein ganzes Textkorpus
erfasst wird? Diesen Fragen ist die folgende Pilotstudie Diese
Studie entstand im Rahmen des interdisziplinären Projekts »Die Affekte der
Forscher«, gefördert von der VolkswagenStiftung (2013–2017, Az 86 783). gewidmet, die
zunächst in die Theorie einführt, dann eine Methodologie präsentiert und anschließend
an einem Korpus von 103 wissenschaftlichen Ethnografien beispielhaft vorführt, zu
welchen Ergebnissen die Analyse von Paratexten führen kann.
2. Paratexte – die Begleiter der Werke
Das eben eingeführte Beispiel des gedachten Lesers verdeutlicht, dass zunächst
zwischen kontextuellen (z. B. Kenntnis des*der Autors*in oder des Verlags), paratextuellen
(Widmungen, Vorworte, Fußnoten, Zitate, Anhänge, Bibliografien, Beiträge der
Herausgeber*innen, vom Verlag hinzugefügte Klappentexte) und textuellen Signalen
(Erzählinstanz, Personen, Orte, Dialoge, interne Fokalisierung etc.) unterschieden
werden muss. Während die paratextuellen Signale – also jene, die den Haupttext selbst
begleiten – leicht als Daten erfasst werden können, erfordert beispielsweise die
Einschätzung, ob es sich um einen autobiografischen oder einen fiktiven Ich-Erzähler
handelt, eine Evaluation durch die Leser*innen. Sie finden z. B. in einem Vorwort
Hinweise darauf, ob es sich um Selbsterlebtes oder um eine Fiktion handelt.
Kontextuelle Signale wiederum sind Teil des Alltagswissens der Leser*innen; sie
variieren je nach ihrer Disposition und Kenntnisstand und werden im Folgenden nicht
weiter berücksichtigt, da sie nicht auf eine einfache Weise objektiviert werden
können. Potenziell lassen sich Kontextinformationen
selbstverständlich als Gesamtheit aller zum Zeitpunkt der Evaluation verfügbaren
Informationen beschreiben – etwa über Beiträge in den Medien oder Autorenlexika;
der enorme Aufwand, der für ihre Erfassung notwendig wäre, ist
offensichtlich.
Paratexte sind mit Gérard Genette all jene Informationen, die einen Text umgeben und
verlängern […], um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren; ihn präsent zu machen, und
damit seine ›Rezeption‹ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines
Buches zu ermöglichen.Genette 1989, S. 9. Hervorhebungen im
Original. In seiner Studie beschäftigt sich Genette ausschließlich mit
literarischen Werken und richtet sein Interesse auf die Namen der Autor*innen, den
Titel, den Waschzettel (»Klappentext«), Widmungen, Motti, Vorworte, Zwischentitel und
Anmerkungen. Zu Fußnoten vergleiche hier bereits Grafton
1995, passim. Im Hinblick auf nichtliterarische und vor allem
nichtfiktionale Werke können Illustrationen, Fotografien, Tabellen, Schaubilder,
Karten, Appendizes, Danksagungen usf. ebenfalls als Paratexte verstanden werden.
Genette unterscheidet darüber hinaus zwischen Paratexten, die von Autor*innen
und/oder Herausgeber*innen im Hinblick auf das Werk hinzugefügt wurden (Peritexte, z.
B. Widmungen und Danksagungen, aber auch vom Verlag hinzugefügte Informationen wie
Gattungsangaben, Inhaltsverzeichnisse oder Indizes) und werkexternen Paratexten, die
in der Form von Begleitmaterialien dem Text beigefügt werden (Epitexte, hier
insbesondere die verlegerischen Epitexte auf dem Umschlag, aber auch standardisierte
Informationen wie jene Metadaten, die der Deutschen Nationalbibliothek übermittelt
oder als Library of Congress Cataloging-in-Publication Data
erfasst werden). Peritexte und Epitexte teilen sich nach Genette erschöpfend und
restlos das räumliche Feld des Paratextes, mit anderen Worten: Paratext = Peritext + Epitext.Genette 1989, S. 13. Hier wird vor allem deutlich,
welchen Sinn der Originaltitel des Genette’schen Werkes Seuils hat: Er stellt Paratexte metaphorisch nicht nur als die ›Schwellen‹ vor, die
die Leser*innen zu überschreiten haben, um in den Text zu gelangen, sondern er
markiert die Paratexte auch als ›Schwellenbereich‹, in dem die Gestaltung durch die
Autor*in mit der des Verlages vermittelt wird. Das lässt sich
auch aus der Anspielung auf den Verlag selbst schließen, in dem das Buch
publiziert wurde: Das französische Original von Genette 1989 erschien 1987 unter
dem Titel Seuils in den Éditions du Seuil. An den Paratexten lassen sich daher
Präsentation, Traditionen, gesellschaftliche Konventionen und die Kräfte des Marktes
ablesen und objektivieren. Im Hinblick auf die hier zu untersuchenden Paratexte in wissenschaftlichen Werken
lassen sich objektivierende Paratexte – also solche, die den wissenschaftlichen
Objektivitätsgestus unterstützen, wie etwa Fuß- und Endnoten, die Bibliographie
oder ein Glossar – von solchen Paratexten unterscheiden, die eine subjektivierende
Funktion haben, indem sie den Bezug zur Forscher*in und deren sozialer Umwelt herstellen,
wie dies etwa bei Widmungen, Danksagungen oder der Kurzpräsentation der Autor*innen der Fall ist.
Textuelle Signale wie die Erzählposition hingegen sind nicht zu den Paratexten zu
zählen, enthalten aber unverzichtbare Informationen. So finden sich konstitutive
Merkmale faktualer Erzählungen wie die Identität von Autor*in und Erzähler oder die
Unterscheidung von homo- und heterodiegetischer Erzählebene vor allem
textintern. Aber eben nicht nur: Hinweise wie »Nonfiction«
oder »Autobiographie« sind gelegentlich Teil der verlegerischen Epitexte.
Auch hier sind die Vorarbeiten von Genette von entscheidender Bedeutung, sind die
Erzählinstanzen doch Träger der generischen Unterscheidung der Texte, denn die Genres
der Fiktion, der Autobiografie und der faktualen Erzählung sind durch einen
charakteristischen Einsatz der Erzählpositionen gekennzeichnet, insbesondere was
die Beziehung zwischen Erzähler, Autor*in und Figur angeht.Genette 1992, S. 81–91. So signalisiert die Identität von Autor*in (A),
Erzähler (N) und Person (P) eine Autobiografie, zusammengefasst in der Formel A = N =
P. In einer Biografie hingegen sind die Autor*innen nicht identisch mit den Personen,
über die sie schreiben, also gilt: A = N; A ≠ P; N ≠ P. Die Analyse der Beziehungen
zwischen Autor*innen, Erzähler und den im Text vorkommenden Personen sowie die
Unterscheidung von homodiegetischer (der Erzähler ist Teil der erzählten Welt) und
heterodiegetischer Ebene (der Erzähler ist nicht Teil der erzählten Welt) erlauben
also Aussagen über den ontologischen Status des Textes.
Um wie der gedachte Leser aus der obigen Einführung eine Reihe von Texten anhand
ihrer Paratexte sowie textinterner Merkmale wie der Erzählsituation zu evaluieren,
müsste daher die Gesamtheit der Paratexte und der Erzählinstanzen sowie weiterer
textinterner Hinweise wie Dialoge oder Verben der Aktivität oder internen
Fokalisierung erfasst werden. Die Kombination dieser Signale sowie ihre je
unterschiedliche Gewichtung kann dann der Identifikation von Texten dienlich gemacht
werden, die von der Form her analog gestaltet sind. So lassen sich einzelne Gruppen
von Texten voneinander abgrenzen, wiederkehrende Muster identifizieren, typische
Darstellungen ermitteln und konventionelle Präsentationen von unkonventionellen
unterscheiden. Wo das untersuchte Textkorpus groß genug ist und sich auch eine
zeitliche Tiefenstaffelung findet, lassen sich Entwicklungen im Zeitverlauf
nachzeichnen.
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Erfassung eine große Datenmenge produziert,
die manuell kaum noch ausgewertet werden kann, sobald das Korpus groß wird. Obwohl in
der vorliegenden Studie mit dem einleitend entworfenen gedachten Leser einer
Herangehensweise gefolgt werden soll, die die Alltagserfahrung aller routinierten
Leser*innen abbildet und verlängert, muss doch auch auf die Eigenheiten verwiesen
werden, die die Bearbeitung größerer Datenmengen, die Umwandlung textueller und
grafischer Informationen in Zahlenwerte und das Clustering der
Werte mit sich bringen. Hier wird der Übergang von einem hermeneutischen Verstehen zu
den Digital Humanities vollzogen. Die abstrakte Relationierung
von Textsignalen in Form von Mustern lässt sich nicht vollständig mit dem Erleben von
Texten durch die Rezipient*innen vermitteln. Sie führt zwar dazu, dass typische
Muster wie etwa Genrekonventionen ermittelt werden und diese auch die Leseerfahrung
der Rezipient*innen bestätigen können, aber zum einen können aus den erhobenen Daten
keine Kausalzusammenhänge abgeleitet werden, die erklären, wie und warum es zu einer
spezifischen Konfiguration von Werten kam (dies ist die Aufgabe der
Literaturgeschichte), zum anderen bilden geclusterte Daten Muster, die nie perfekt
sind, weshalb nach Erklärungen für die Übergänge zwischen typischen Merkmalsgruppen
gesucht werden muss (dies ist die Aufgabe der Allgemeinen Literaturwissenschaft).
Hier zeigt sich eine spezifische Herausforderung für die Geisteswissenschaften und
der von ihnen betriebenen hermeneutischen Interpretation: Wo akkumulierte und
relationierte Daten gedeutet und erklärt werden sollen, bedarf es Erkenntnissen und
Einsichten, die aus dem genuinen Bereich der Geisteswissenschaften – hier der
Literaturwissenschaft – stammen, und die mit den Ergebnissen der Datenanalyse
harmonisiert werden müssen, um überzeugende Erklärungen vorlegen zu können.
Kausalattribuierungen sind daher nur im Rahmen der Kontextualisierung der Daten und
ihrer Interpretation möglich. Dies wird im Auswertungsteil der vorliegenden Studie
sehr deutlich werden.
3. Methodologie
Als wissenschaftliches Genre, in dem das Verhältnis zwischen Forscher*in und zu erforschender
Umwelt im Zentrum steht, reflektieren wissenschaftliche Ethnografien zum einen zeitgenössische
Darstellungskonventionen, wie sie beispielsweise in der Phase der Etablierung und Anerkennung
als Wissenschaftsdisziplin ab den 1870er Jahren gängig waren; zum anderen hinterfragte die
Ethnografie im Laufe der Zeit nicht nur ihre Beschreibung von Kultur, sondern auch die Kultur
des Schreibens und (wissenschaftlichen) Darstellens und die damit verbundene Konstruktion von
Kultur. In der Writing Culture-Debatte ab den späten 1970er Jahren wurden daher Fragen nach
ethnografischer Repräsentation und nach der Positionalität der Forscher*innen diskutiert.
Vgl. dazu Clifford 1986.
Gerade der Kontrast zwischen wissenschaftlicher Präsentation, die ihre Befunde durch eine
Vielzahl von Paratexten absichert, und einer autobiografisch fundierten Selbstreflexion der
Forscher*innen wirft die Frage auf, inwiefern ethnografisches Schreiben grundsätzlich durch
eine Spannung zwischen wissenschaftlich-objektivierender und subjektiv-reflektierender Darstellung
gekennzeichnet ist und inwiefern sich dies in der Form der Präsentation niederschlägt.
Da sich wissenschaftliche Ethnografien – wie die meisten wissenschaftlichen Publikationen –
durch eine Vielzahl von Paratexten auszeichnen, liegt es nahe, den paratextuellen Apparat
genauer zu untersuchen, um insbesondere den Wandel der Präsentation im Zeitverlauf in den
Blick nehmen zu können. Die vorliegende Pilotstudie betritt damit für die Ethnografie Neuland,
denn bislang wurde noch kein größeres Korpus einer systematischen literaturwissenschaftlichen
Analyse unterzogen.Vgl. aber bereits die Studie von
Kilchör et al. 2018, die ein nahezu
vergleichbar großes Korpus von primatologischen Werken im Hinblick auf ihre Paratexte untersucht hat.
Im Folgenden wird beschrieben, wie auf der Grundlage von 103 wissenschaftlichen
Ethnografien Daten erhoben und ausgewertet wurden. Die Leitfragen waren dabei
folgende:
Wie lassen sich Darstellungskonventionen in der Ethnologie beschreiben? Können Abweichungen von diesen Konventionen identifiziert werden und wie sehen
sie aus? Wie funktionieren Gattungsprogramme, wie wird ethnologisches Schreiben
generisch formatiert? Wie formatieren Paratexte und textinterne Signale die Darstellung von
Feldforschungen und damit von publiziertem ethnologischem Wissen? Wie bedingen sie die Darstellung von Objektivität und Subjektivität in der
Ethnologie?
Die Auswahl der zu untersuchenden Texte stellte eine erste Herausforderung dar. Da in
der Ethnologie bislang noch kein Katalog der bedeutendsten Werke existiert – etwa in
Form einer Liste der am häufigsten zitierten Texte Dies wurde
anhand der Virtuellen Fachbibliothek Ethnologie / Volkskunde EVIFA überprüft. – und damit
kein etablierter Kanon vorliegt, hätte ein alternativer Weg darin bestanden, eine
repräsentative Stichprobe aus einer Grundgesamtheit ziehen. Diese Grundgesamtheit
könnte kumulativ aus dem Katalog der Library of
Congress kompiliert werden, indem beispielsweise die Library of Congress Subject Headings Ethnology und Anthropology miteinander kombiniert werden. Eine Recherche ergab, dass allein mit dem Subject Heading Ethnology und seinen Unterkategorien über 23.000 Titel in vielen Sprachen verknüpft
sind. Da davon ausgegangen werden kann, dass ein Großteil dieser Monografien nur in
gedruckter Form vorliegen und nicht elektronisch verfügbar sind, erschien der Aufwand
für die Literaturbeschaffung unangemessen für eine Pilotstudie, denn die
Datenerhebung verlangt eine Autopsie der einzelnen Titel.
Die Textauswahl erfolgte daher pragmatisch in zwei Schritten. Zunächst wurde auf die
Social-Reading-Plattform Goodreads zugegriffen, auf der die Leser*innengemeinschaft Bücher
nach Genres klassifiziert. Gegenwärtig sind dort 29.260 Titel unter dem Stichwort Anthropology verzeichnet. Diese Liste wurde in einem ersten
Schritt nach dem Kriterium der Häufigkeit sortiert, in diesem Fall die Häufigkeit der
Zuweisung des Labels Anthropology zu einem Titel. So kam eine
erste Auswahl von rund 1.750 Werken zustande, die im csv-Format exportiert wurden.
Diese Auswahl erlaubte – bei aller Ungenauigkeit und Willkür, die
Social-Reading-Plattformen mit sich bringen – eine erste Abschätzung des Korpus im
Hinblick auf die Anzahl von Publikationen im Zeitverlauf, auf den Anteil von Frauen
und Männern als Autor*innen der Werke, auf die Publikationsorte
Eine Visualisierung der Publikationsorte dieser 1.750 Titel
im Zeitverlauf wurde im DARIAH-DE GeoBrowser vorgenommen. sowie auf die am
häufigsten verwendeten Wörter in den Titel.
In einem zweiten Schritt nahm ein Fachkollege, der Sozial- und Kulturanthropologe
Prof. Dr. Thomas Stodulka (FU Berlin), eine engere Auswahl von 103 Titeln aus dieser
ersten Auswahl vor. Hier wurden ausschließlich Monografien ausgewählt, die als
wissenschaftlich relevant im Sinne ihrer diskursbildenden Geltung angesehen wurden.
Die Anzahl der ausgewählten Werke wurde proportional ins Verhältnis zur ersten
Auswahl von 1.750 Titeln gesetzt (Anzahl Titel pro Jahrzehnt, Anteil Frauen/Männer
als Autor*innen, Publikationsorte).
Diese Auswahl von 103 Ethnografien deckt den Zeitraum von 1839 (Publikation von
Darwins Voyage of the Beagle) bis 2014 ab und umfasst 26 von weiblichen und 77 von männlichen Autor*innen
publizierte Titel. 32 der Titel wurden in Europa, 71 von ihnen in den USA
publiziert, Eine Visualisierung der Publikationsorte der 103 Ethnografien findet sich im DARIAH-DE GeoBrowser. neun in
französischer Sprache, alle weiteren in englischer. Im Rahmen der darauffolgenden
Datenerhebung wurden die Erstausgaben der Texte begutachtet, um die jeweils
zeitgenössische Darstellung in der Originalsprache erfassen zu können. Erhoben wurden
in einer Tabelle Werte für die Paratexte:
ErzählpositionHomo- bzw. Heterodiegesehervorgehobene Zitate
Die Paratexte Vorworte wurden in allografe (von fremder Hand) und auktoriale
differenziert, Anmerkungen in Fuß- und Endnoten unterschieden, Illustrationen nach
Farb- und Schwarzweißbildern sowie Portraits von Autor*innen, Karten, Schaubilder,
Tabellen und Zeichnungen getrennt, verlegerische Epitexte in Einführungen ins Werk,
Autor*innenkurzbiografien, Listen weiterer Werke der Autor*innen und Blurbs differenziert. Da sich die Forschungsfragen auf das Spannungsfeld
zwischen wissenschaftlicher Objektivität
und reflektierter Subjektivität in der Textsorte Ethnografie richteten, erschien es sinnvoll,
auch die in den Texten verwendeten Erzählpositionen zu erfassen, d.h. aufzuzeichnen, ob
beispielsweise ein unpersönlich-auktorialer Erzähler oder ein autobiografischer Ich-Erzähler
verwendet wurde. Strenggenommen stellen diese Erzählperspektiven zwar keinen Paratext dar,
sondern eine Eigenschaft des Haupttextes; es stand aber zu überprüfen, inwiefern diese
Erzählpositionen mit dem Einsatz von Paratexten korrelieren, etwa durch den Verzicht auf
einen umfangreichen Anmerkungsapparat in einem stark autobiografischen Text.
Die Erzählpositionen wurden nach ihrem ontologischen Status differenziert. Bei den
Zitaten, ebenfalls einem textinternen Signal, wurden lediglich im Text hervorgehobene
Zitate sowie ihre Häufigkeit erfasst.
In einem optionalen Feld wurden Besonderheiten der Textgestalt wie etwa die
Wiedergabe direkter Rede oder von Dialogen verzeichnet.
Den zweiten Arbeitsschritt nach der Erfassung der Daten bildete ihre Umwandlung in
Zahlenwerte, die die Grundlage der quantifizierenden Auswertung bilden. Insbesondere
dieser Arbeitsschritt zeigt die Schwierigkeiten, Schwächen und Fallstricke auf, denen
sich eine quantifizierende Analyse von Paratexten zu stellen hat. Bei einer ganzen
Reihe von Paratexten (Widmung, Motto, Danksagung, allografe und auktoriale Vorworte, Einführung, Zwischentitel, Inhaltsverzeichnis, Nachwort, die Klappentexte
Einführung ins Werk, Autor*innenkurzbiographie, Blurbs, Listen
weiterer Titel des*der Autors*in sowie Fotografie der Autor*innen) wurde lediglich ihr
Vorhandensein oder Nichtvorhandensein registriert, denn hier erschien eine
Quantifizierung – d. h. die Ermittlung ihres Umfangs im Verhältnis zum Gesamttext –
nicht sinnvoll. Um ein Beispiel zu nennen: Selbstverständlich lässt sich der Umfang
einer Danksagung ermitteln und ihr proportionaler Anteil am Gesamttext errechnen; es
stellt sich aber die Frage, welche Aussage auf dieser Grundlage getroffen werden kann
und welchen Stellenwert diese Aussage bei der Interpretation der Ergebnisse haben
könnte. Um Darstellungskonventionen zu ermitteln, genügt jedoch zunächst einmal die
Aufzeichnung ihres Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins. Alternativ soll hier eine
weitere Möglichkeit vorgeschlagen werden, der indes in der vorliegenden Studie nicht
nachgegangen wurde: Die Danksagungen kartieren das persönliche Netzwerk der
Autor*innen und bilden damit eine hervorragende Grundlage für
wissenschaftssoziologische Studien sowie die Vernetzung der Autor*innen
untereinander. Vergleichbar verhält es sich mit den Vorworten. Sie sind im Kontext
der vorliegenden Studie vor allem dann interessant, wenn sie nicht von den
Autor*innnen selbst stammen: Ein allografes Vorwort wird häufig von einer Autorität
im Wissenschaftsfeld verfasst und dient der Konsekration der meist noch nicht mit
hohem Sozialkapital ausgestatteten Autor*innen, oder es stammt von der Herausgeber*in
der Reihe, in der die Monografie publiziert wurde. Da das relative Gewicht in der
Unterscheidung zwischen einem Vorwort, das von einer Wissenschaftsautorität verfasst
wurde, und einem Vorwort, das von Reihenherausgeber*innen in häufig standardisierter
Form geschrieben wurde, nicht adäquat quantifiziert werden kann, Das würde voraussetzen, dass sich das symbolische und soziale Kapital eines
Autors nicht nur überhaupt bestimmen lassen müsste, sondern es würde auch eine
Formel notwendig machen, nach der diese Kapitalsorten in ihrer Verteilung über die
verschiedenen sozialen Felder hinweg kumulativ berechnet werden könnten.
und da sich unter den 103 erfassten Titeln nur 17 allografe Vorworte fanden und für
die Interpretation leicht auf die Rohdaten zurückgegangen werden konnte, wurde auf
die Zuweisung einer Gewichtung zu den Vorworten verzichtet.
Bei anderen Daten erschien die Quantifizierung jedoch sinnvoll: Die Umfänge von
Appendizes, der Bibliografie, des Index, des Glossars oder der unterschiedlichen
Illustrationen (Anzahl von Bildern, Karten, Schaubildern, Tabellen, Zeichnungen)
sowie ihr proportionaler Anteil am Gesamttext lassen sich leicht ermitteln (Anzahl
Seiten des Paratexts pro Gesamtzahl an Seiten bzw. Anzahl von Illustrationen) und
diese Werte stützen als Aussage die Interpretation. So annonciert z. B. eine sehr
umfangreiche Bibliografie, dass es sich bei der Monografie um eine Metastudie
handelt. Nicht einfach zu ermitteln hingegen sind die Umfänge von Anmerkungen. Hier
stellte sich die Vielfalt der Präsentationsoptionen einer einfachen Quantifizierung
entgegen: In den erfassten Werken wurden Endnoten meist in einem eigenen Abschnitt am
Ende des Buches zusammengefasst; damit ließe sich ihre Seitenzahl bzw. ihr relativer
Anteil am Haupttext einfach bestimmen. Bei Fußnoten hingegen läge der sinnvollste
quantifizierende Zugang in der Ermittlung ihrer Zeichenzahl, die ins Verhältnis zur
Zeichenzahl des Haupttextes gesetzt werden könnte. Dieser Zugang stellt sich jedoch
einer pragmatischen und effizienten Herangehensweise entgegen: Der Großteil der
untersuchten Ethnografien wurden im 20. Jahrhundert publiziert und liegt
ausschließlich in gedruckter Form vor, so dass die Zeichenzahl der Fußnoten nicht
schnell zu ermitteln ist. Noch komplexer verhält es sich, wenn in einem Text sowohl
Fuß- als auch Endnoten verwendet werden. Auch hier läge es nahe, ihren Anteil am
Haupttext über die Zeichenzahl zu bestimmen, was wiederum erfordern würde, auch die
Zeichenzahl der Endnoten zu ermitteln und nicht die Textfläche, die sie belegen.
Solcherlei quantifizierende Bestimmungen werden einfacher möglich sein, wenn alle
Texte digital vorliegen und daher die Zeichenzahl schnell erfasst werden kann; für
die vorliegende Studie hingegen wurde pragmatisch die Anzahl von Fuß- oder Endnoten
pro Seite bestimmt. Dieses Verfahren ist einfach durchzuführen, indem die absoluten
Zahlen der Fuß- bzw. Endnoten ermittelt werden und mit der Anzahl der Seiten des
Haupttextes relationiert werden. Für die Auswertung wurde daher ein Quotient (Anzahl
Fuß- bzw. Endnote pro Seite) errechnet und der sich daraus ergebende Prozentwert
verwendet. Diese Normalisierung wurde nicht nur für die Anmerkungen vorgenommen,
sondern überall da, wo quantitative Werte erhoben wurden,
z.B. beim Umfang der Anhänge, der Anzahl von Bildern, Schaubildern, Tabellen usf.
Vergleichbare Schwierigkeiten ergaben sich auch bei den textinternen Signalen. Hier
zeigte sich einerseits, dass die in der Literaturtheorie von Genette etablierten
Relationen von Autor*in, Erzähler und Person sowie die Unterscheidung von
homodiegetischer und heterodiegetischer Ebene zwar hilfreich sind, andererseits sind
sie in der Praxis aber nicht einfach operationalisierbar, denn häufig werden in den
hier untersuchten Texten nicht nur eine, sondern mehrere Erzählpositionen verwendet.
In der Einleitung wird etwa oft ein autobiografischer Ich-Erzähler verwendet, während
in anderen Textteilen (z. B. einzelnen Kapiteln) heterodiegetisch erzählt wird, z. B.
auktorial. Auch hier stellt sich die Frage, ob und wie der relative Anteil einer
Erzählposition im Verhältnis zum Gesamttext ermittelt werden kann, eine
Problemstellung, zu der es in der Literaturtheorie bislang keine Antworten gibt.
Daher wurde auch hier pragmatisch verfahren, indem die im Untersuchungskorpus
verwendeten Erzählpositionen typisiert und die ontologisch strengsten Positionen dem
Gesamttext zugewiesen wurden. Insgesamt kommen im untersuchten Textkorpus vier
unterschiedliche Typen von Erzählern zum Einsatz: In zwei Texten fanden sich fiktive
Ich-Erzähler;Bohannan (Smith Bowen) 1954;
Morgan 1991.
vier weitere Texte arbeiteten mit einem auktorialen Erzähler, der nicht mit einem
Personalpronomen im Text verortet werden kann. Der größte Teil der Texte (67 Werke)
operiert mit einem autobiografischen Ich-Erzähler, d. h. das Personalpronomen wird
von Tätigkeitsverben (»ich sagte«, »ich ging«, »ich fragte«) begleitet; der Erzähler
wird so in Interaktion mit seiner Umwelt gezeigt. Dies trifft zwar häufig nur für
einen Teil der Textfläche zu, dennoch kann man mit recht argumentieren, dass diese
homodiegetische Erzählinstanz auch als diejenige angesehen kann, die für den
Gesamttext bestimmend ist. Die zweitgrößte Gruppe von Texten (30 Werke) setzt eine
Erzählposition ein, die hier summarisch als pluralis auctoris bezeichnet wird. Es wird entweder ein »Wir« oder ein »Ich« benutzt, um den Erzähler
zu identifizieren und er leitet die Leser durch den Text, bleibt im Gegensatz zum
homodiegetischen autobiografischen Ich-Erzähler dabei aber nur heterodiegetisch an
der Textoberfläche, d. h. er ist nicht Teil der erzählten Welt (»Wie wir eben gesehen
haben«, »ich folgere daraus«, »ich möchte nun in meiner Argumentation voranschreiten«
usf.). Diese letztere Erzählposition weist eine hohe Variabilität auf: Sie kann die
Ergebnisse der Untersuchung mit den Leser*innen vergemeinschaften (»wir sehen nun,
dass«) oder den*die Leser*in direkt ansprechen (»ich hoffe, es ist klar geworden«). Wie
aus den untersuchten Texten deutlich wurde, bietet diese Erzählposition den
Autor*innen eine hohe Flexibilität und einen großen Gestaltungsspielraum. So weitet
etwa Bronislaw Malinowski diese Erzählsituation auf ein erlebendes »Wir« aus; wie in
einer Kamerafahrt führt er die Leser*innen an den Schauplatz des Dargestellten: We
pass several villages, As we stand on the wide central space, let us imagine that we
are taking a bird’s-eye view of a native village, and are trying to form a compound
moving picture of the life of the community.Malinowski 1932,
S. 9, 10, 48f. Ruth Benedict hingegen dehnt den pluralis auctoris hin zu einer nationalen Gemeinschaft: Would our army have to
prepare to fight, when we were winning, Our country was not devastated.Benedict / Vogel 1946, S. 3, 22, 313. Für die Auswertung
wurde dann jeweils nur noch einer der vier verwendeten Typen von Erzählern notiert –
entweder fiktiver Ich-Erzähler, autobiografischer Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler
oder pluralis auctoris. Mit anderen Worten: Wo also ein
autobiografischer Ich-Erzähler in einer Gemengelage mit einem pluralis auctoris oder aber mit einem auktorialen Erzähler verwendet wird,
wurde dem Text die Erzählposition ›autobiografischer Ich-Erzähler‹ zugewiesen, weist
sie doch streng auf die Identität von Autor*in und Erzähler hin. Hier zeigt sich
einmal mehr die Notwendigkeit, Erkenntnisse der Literaturtheorie in der Praxis
anzuwenden und zu überprüfen, gegebenenfalls zu modifizieren und zu differenzieren
und schließlich einer Operationalisierung wie im vorliegenden Fall zugänglich zu
machen.
Schließlich die hervorgehobenen Zitate. Dass sie überhaupt erfasst wurden, geht auf
den gedachten Leser der Einführung zurück: Ein Leser, der ein Buch in die Hand nimmt,
identifiziert im Sinne seines Alltagswissens ein wissenschaftliches Buch vor allem
anhand der ihm ins Auge springenden hervorgehobenen Zitate, an den Fuß- und Endnoten
sowie den Anhängen. Daher wurden alle Zitate – obwohl sie als textinterne Signale und
nicht als Paratexte gelten – erfasst, wenn sie etwa durch Kursivierung, Einrückung,
einen kleineren Schriftsatz und engeren Zeilenabstand vom Haupttext abgehoben wurden.
Ebenso wie bei den Anmerkungen lassen sich hier Überlegungen anstellen, wie diese
Zitate quantifiziert werden sollen: Nach Anzahl der Zeichen, nach belegter Textfläche
oder nach Häufigkeit in Relation zum Haupttext. Wie auch bei den Anmerkungen wurde
die Entscheidung hier pragmatisch vorgenommen: Quantifiziert wurden diese Zitate,
indem ihre absolute Zahl erfasst und ins Verhältnis zum Haupttext gesetzt wurde.
Dabei wurden drei Intensitäten unterschieden:
Hohe Intensität (hervorgehobenes Zitat jede bis jede zweite Seite)Mittlere Intensität (Zitat jede dritte bis vierte Seite)Geringe Intensität (Zitate auf jeder fünften Seite oder weniger).
4. Das wissenschaftliche Selbst im Wandel: Eine sehr kurze Geschichte
ethnologischer Objektivität
In der nachfolgenden Interpretation der erhobenen Daten wird nicht nur den Leitfragen
nach Darstellungskonventionen, der formativen Wirkung von Gattungsprogrammen und den
Rahmenbedingungen für Objektivität und Subjektivität nachgegangen, wie sie oben am
Beginn des Abschnitts zur Methodologie formuliert wurden. Bereits während der
Erfassung der 103 Ethnografien tauchten darüber hinaus spezifischere Fragen auf:
Können unterschiedliche Gruppen von Texten anhand der verwendeten Paratexte
voneinander abgegrenzt werden? Welche Schlüsse können auf der Grundlage des untersuchten Korpus von
Ethnografien auf die Entwicklung ethnografischen Schreibens im Zeitverlauf
getroffen werden? Welche Aussagen sind im Hinblick auf Plausibilisierungsstrategien und die
Abweichung von Konventionen möglich?
Für die Auswertung und Interpretation der erfassten Daten wurden jene Werte
verwendet, deren Umwandlung in numerische Zahlen oben im methodologischen Teil
beschrieben wurde. Diese Daten liegen in Tabellenform vor
Sämtliche Daten wurden unter http://dx.doi.org/10.20375/0000-000D-FF87-C publiziert, vgl.
Lehmann 2021.
und bilden die Grundlage
der nachfolgend verwendeten Visualisierungen. In einem ersten Schritt wurden die
erhobenen Werte einem Clustering unterzogen, um festzustellen,
ob sich aus der Kombination der Paratexte typische Muster ergeben und sich auf dieser
Grundlage die Texte zu Gruppen zusammenfassen lassen, die im Hinblick auf die betrachteten Merkmale als möglichst homogen zu bezeichnen sind.
Diese explorativen Analysen wurden zunächst mit der statistischen Software R durchgeführt und die
Ergebnisse als Dendrogramme visualisiert (vgl. Datenpublikation). Die Herausforderung bei gängigen
Clusteringverfahren liegt aber – gerade wenn es um die Analyse einer größeren Menge von Untersuchungsobjekten
geht – in der Interpretation der Ergebnisse des Clusterings: Zwar liefert die Gruppenbildung eine grobe
Orientierung, nicht selten aber sind die durch den Clusteringalgorithmus errechneten Zuweisungen einzelner
Objekte zu einer Gruppe nicht nachvollziehbar oder nur den Analysten verständlich, die ohnehin mit den
einzelnen Texten und ihren Merkmalen vertraut sind. Nach der iterativen Exploration der Gruppierungen
auf Grundlage der numerischen Werte wurde daher in einem zweiten Schritt ein Clustering der Texte vorgenommen,
das die Zahlenwerte grafisch veranschaulicht und daher auch für Leser*innen
nachvollziehbar macht, die die einzelnen Texte nicht selbst kennen. Dieses Clustering wurde mit dem freien Werkzeug Bertifier Vgl. Bertifier. Dank an Jean-Daniel Fekete (INRIA Paris), der dieses
Werkzeug mitentwickelt hat und die Autorin und den Autor darauf aufmerksam gemacht hat.
vorgenommen, das zwei Funktionen miteinander kombiniert: Zum einen fasst es
Datensätze mit ähnlichen Werten zusammen und gruppiert sie, wobei Datensätze, die
weit außerhalb der für eine Gruppe von Datensätzen typischen Werte liegen, in den
Übergangsbereichen zwischen den Gruppen angeordnet werden. Darüber hinaus ermöglicht
das Werkzeug eine Gewichtung einzelner Datenreihen, um etwa die besondere Bedeutung
von Zitaten und Anmerkungen hervorheben zu können. Zum anderen können mit diesem
Werkzeug numerische Werte in visuelle Zeichen (etwa Punkte und Balken) umgewandelt
werden, um die Auswertung grafisch zu erleichtern und Gruppen klarer voneinander
abzugrenzen. Insgesamt ermöglicht Bertifier also das zielgerichtete Editieren der
Ergebnisse von Gruppenbildungsverfahren, wobei die zugrunde liegenden Werte visuell verfügbar und damit,
anders als bei errechneten Clustern, nachvollziehbar bleiben.
In der nachfolgenden Grafik (Abbildung 4), die mit Bertifier erzeugt wurde, werden
die Paratexte in Spalten dargestellt, jeder einzelne Titel bildet eine Zeile. Weiße
Punkte veranschaulichen das Vorhandensein eines Paratexts, schwarze Flächen sein
Nichtvorhandensein. Balken hingegen wurden für die quantifizierten Werte verwendet.
Die Größe eines Balkens veranschaulicht dabei die erhobenen Quantitäten. Insgesamt
verdeutlicht die Grafik das Ergebnis des Clusterings und
erlaubt die Abgrenzung von drei Gruppen von Texten.
Im oberen Teil der Grafik finden sich jene Werke, bei denen die objektivierenden
Paratexte (insbesondere Zitate und Anmerkungen, aber auch Bibliografien, Glossare und
Indizes) am umfangreichsten sind; sie treten durch die weißen Flächen deutlich
hervor. Im unteren Teil der Grafik werden jene Texte erkennbar, die über nur wenige
Paratexte verfügen und deren Quantität gering ist. Um die Lesbarkeit der Grafik zu
erhöhen, wurden die Erzählpositionen hinzugefügt und durch einen weißen Rahmen
voneinander abgegrenzt; es sind dies von oben nach unten pluralis auctoris, auktorialer Erzähler, autobiografischer Ich-Erzähler und fiktiver
Ich-Erzähler.
In der Grafik lassen sich drei Gruppen von Texten unterscheiden:
Oben in der Grafik finden sich jene Texte, die durch die Verwendung eines pluralis auctoris
oder eines auktorialen Erzählers sowie durch die Proliferation von objektivierenden Paratexten
(insbesondere Zitate und Anmerkungen, aber auch Bibliografien,
Glossare und Indizes) leicht als wissenschaftliche Monografien erkennbar sind.Unten in der Tabelle findet sich eine Gruppe von
Texten, die auf Paratexte weitgehend verzichten: Hier sind die beiden Werke zu
finden, in denen der fiktive Ich-Erzähler zum Einsatz kommt und damit eine romanhafte
Darstellung gewählt wird, sowie eine ganze Reihe von Texten, in denen ein
autobiografischer Ich-Erzähler verwendet und zugleich weitgehend auf den
wissenschaftlichen Verweisapparat verzichtet wird.Zwischen diesen beiden
Textgruppen findet sich eine dritte Gruppe von Werken, in denen aus der Perspektive
eines autobiografischen Ich-Erzählers berichtet wird und die zwar über die typisch
wissenschaftlichen Fuß- oder Endnoten verfügen, in denen objektivierende Paratexte
wie hervorgehobene Zitate aber gänzlich fehlen und Bibliografien, Glossare und
Indizes selten verwendet werden. Diese Gruppe von Texten bindet das anthropologische Forschersubjekt,
das aus der Ich-Perspektive erzählt, gewissermaßen in einen konventionellen wissenschaftlichen Apparat
ein und distanziert sich durch das paratextuelle Erscheinungsbild deutlich von den
Darstellungskonventionen der Autobiografie.
Die Grafik veranschaulicht damit zwei Aussagen, die für das Gesamtkorpus charakteristisch sind:
Zum einen ordnet sie die einzelnen Texte in ein Spannungsfeld ein, das ganz wesentlich durch
wissenschaftlich-objektivierende Paratexte wie Zitate, Anmerkungen, Anhänge, Indizes und Glossare
gebildet wird: Oben in der Grafik finden sich Texte, die einen pluralis auctoris verwenden und
in denen die objektivierenden Paratexte dominieren; unten in der Grafik hingegen finden sich Texte
mit einem autobiografischen oder fiktiven Ich-Erzähler und wenigen objektivierenden Paratexten.
Vorworte, Widmungen, Danksagungen, Einführungen usf. hingegen scheinen keine hohe Distinktionskraft
zu besitzen. Zum anderen veranschaulicht die Grafik eine zweite Aussage, nämlich die, dass sich der
eben beschriebene zentrale Gegensatz im Textkorpus (d.h. die Ausdifferenzierung durch objektivierende
Paratexte) innerhalb jeder durch die Erzählposition zusammengefassten Textmenge wiederfindet.
So wird insgesamt der fließende Übergang im untersuchten Korpus zwischen der wissenschaftlichen
Monografie und der Autobiografie deutlich.
Während diese Grafik einen ersten Überblick über das gesamte Korpus zulässt, erlaubt
sie keine Aussagen über mögliche Entwicklungen im Zeitverlauf. Um diese in den Blick
zu nehmen, wurde auf der Grundlage der erfassten Werte eine Reihe von Histogrammen
erstellt, wobei das erfasste Textkorpus nach Dekaden zusammengefasst wurde. Drei
einzelne Werke, die bereits im 19. Jahrhundert erschienen, wurden den Histogrammen
ebenfalls hinzugefügt. Es sind dies Darwin 1839;
Tylor 1871;
Frazer 1894. Als Grundlage für diese Grafiken diente jeweils nur die An- oder
Abwesenheit eines Paratexts, nicht aber sein Umfang. Die nachfolgenden
beiden Histogramme (Abbildung 5 und Abbildung 6) stellen objektivierende (Anmerkungen,
Bibliografie, Indizes und Glossare) und subjektivierende Paratexte (Widmungen,
Danksagungen, Portraitfotos der Autor*innen, Kurzbiografien) einander im Zeitverlauf
gegenüber.
Hier können folgende Aussagen getroffen werden: Wissenschaftliche Paratexte wie
Anmerkungen und Indizes sind schon früh in den Texten präsent, Glossare und
Bibliografien kommen hingegen erst ab den 1920er bzw. 1940er Jahren hinzu. Bei den
subjektivierenden Paratexten sind Widmungen schon früh vorhanden, Danksagungen kommen
erst ab den 1920er Jahren hinzu und sie gewinnen im Zeitverlauf relativ an Gewicht,
d. h. sie kommen im Verhältnis in mehr Texten vor. Kurzbiografien der Autor*innen als
Teil des Klappentextes oder im Buch selbst sind erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts
üblich, Portraitbilder von Autor*innen erst ab den 1970er Jahren. Ihre insgesamt sehr geringe Zahl mag sich auch aus dem Umstand erklären, dass
die Klappentexte nicht vollständig erfasst werden konnten. Aus pragmatischen
Gründen wurden die erfassten Texte in Bibliotheken untersucht, die häufig darauf
verzichten, den Schutzumschlag von Hardcoverwerken zu erhalten, oder aber sie
lassen Softcoverausgaben binden, so dass Paratexte wie Einführungen ins Werk, Blurbs, Kurzbiografien auf dem Umschlag oder eben Fotos der
Autor*innen verlorengehen. Auch wenn hier eine gewisse Dunkelziffer nicht erfasster Paratexte
angenommen werden muss und die Aussagekraft der erhobenen Werte daher eingeschränkt ist,
sollte die Bedeutung dieser Paratexte insgesamt nicht überschätzt werden.
Es ist durchaus bemerkenswert, dass Fotografien,
auf denen auch die Autor*in des Buches abgebildet ist, im Bildteil von nur zehn
Texten vorhanden sind. Dies in folgenden Texten: Barley 1986;
Barley 1988;
Chagnon 2014;
Heider 1979;
Heyerdahl 1948;
Malinowski 1929;
Raybeck 1996;
Rosaldo 2014;
Taussig 1986;
Vitebsky 2005. In aller Regel sind dies
Frontalaufnahmen der Autoren; kein einziges Foto zeigt eine Dialogsituation, in
der der Forscher mit seinen Informant*innen kommuniziert. Vor allem an der
deutlichen Zunahme von Danksagungen (»Acknowledgments«, einer typisch
angelsächsischen Konvention), wird damit insgesamt eine relative Zunahme von
subjektivierenden Paratexten gegenüber den objektivierenden erkennbar.
Abbildung 6 zeigt durch Farbflächen für Portraitbilder, Autorenkurzbiografien,
Danksagungen und Widmung jeweils die An- und Abwesenheit eines solchen Paratexts an;
die farbigen Balken auf der rechten Seite summieren diese Paratexte dekadenweise.
Diese Visualisierung beruht auf den absoluten Werten, d.h. auf der An- oder Abwesenheit
eines solchen Paratexts, und sie vermittelt dem menschlichen Auge die Zunahme
subjektivierender Paratexte im Zeitverlauf über ein Mehr an farbigen Feldern
und ein Weniger an weißen Flächen. Diese grafische Aussage kann durch die numerischen
Werte ergänzt werden, die es erlauben, die Anzahl subjektivierender Paratexte ins
Verhältnis zur Anzahl der untersuchten Werke pro Dekade zu setzen, d.h. eine
Normalisierung durchzuführen. Wie Abbildung 6 zeigt, kamen in den 1930er Jahren
neun subjektivierende Paratexte in sechs Werken zum Einsatz; in diesen sechs Werken
wären insgesamt 24 dieser Paratexte möglich gewesen, so dass lediglich 25 % realisiert
wurden. In den 1970er Jahren hingegen wurden 16 von 36 möglichen subjektivierenden
Paratexten oder 44 % realisiert, in den 1990er Jahren gar 52 von 92 möglichen Paratexten
oder 56 %. So kann die relative Zunahme von subjektivierenden Paratexten im Zeitverlauf
nachvollzogen werden.
Diese Verschiebung wird noch deutlicher, wenn man den Einsatz von Vorworten der
Verwendung von Danksagungen gegenüberstellt. In der folgenden Grafik (Abbildung 7)
werden verwendete Vorworte und Danksagungen zusammengefasst, wobei Vorworte von
fremder Hand, d. h. nicht von dem*der Autor*in selbst (allografe Vorwörter), extra
ausgewiesen werden.
Hier zeigt sich nicht nur die relative Abnahme von Vorworten und die relative Zunahme
von Danksagungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der publizierten Titel, sondern auch
ein Funktionswandel: Die allografen Vorwörter verlieren nämlich im Zeitverlauf sehr
stark an relativem Gewicht. Ihre Aufgabe – die Konsekration neuer Autor*innen durch
eine Autorität im Feld – wird ganz offensichtlich obsolet. Die
beiden Ausnahmen – das Vorwort von Amartya Sen zu Farmer 2003
sowie das Vorwort
der Literaturwissenschaftlerin Jean Franco zur Dissertation von Goffman 2014 –
sind in ihrer Funktion wohl interessant, können im Gesamtbild aber vernachlässigt
werden. Sie wird durch eine andere Funktion abgelöst: Die Beschreibung des
persönlichen Netzwerks der Autor*innen, die in der Danksagung vorgeführt wird.
Fasst man die beiden eben getroffenen Hauptaussagen ›Übergang zur Autobiografie‹ und
›Verschiebung hin zu subjektivierenden Paratexten‹ zusammen, so deutet sich insgesamt
ein Wandel der Darstellungen hin zu einem anderen Objektivitätsverständnis an, das in
der Integration individueller Wahrnehmungen und der Mitwirkung der eigenen Person am
Forschungsprozess greifbar wird. Vgl. zum Wandel des
Objektivitätsverständnisses ausführlich Daston / Galison 2007, S. 38–41,
207–209. Anhand der in dieser Studie erfassten Merkmale kann dieser
Übergang im Zeitverlauf vor allem an der Entwicklung der von den Autor*innen
verwendeten Erzählpositionen und dem Einfügen von Kurzbiografien und Blurbs durch die Verlage abgelesen werden. Die folgende Grafik (Abbildung
8) fasst die erhobenen Werte zusammen.
Hier wird zunächst einmal deutlich, dass die als pluralis auctoris zusammengefasste Erzählposition im Zeitverlauf stark an relativem
Gewicht verliert, während der autobiografische Ich-Erzähler an relativem Gewicht
zunimmt – gemessen an der Gesamtzahl der publizierten Titel pro Dekade.
In den 1960er Jahren verwenden 55 % aller Texte einen pluralis auctoris,
in den 1970ern sind es 33 %, in den 1990ern 26 %. Im Gegensatz dazu findet sich
in den 1960er Jahren in 45 % aller Texte ein autobiografischer Ich-Erzähler,
in den 1970ern in 66 %, in den 1990ern in 65 %. Bei aller Vorsicht, die bei globalen Aussagen
vor dem Hintergrund von nur 103 erfassten Texten geboten ist, wird daraus
der Wandel der Darstellung des wissenschaftlichen Subjekts und damit der Wandel des
Objektivitätsverständnisses in der Ethnologie greifbar: Während nämlich ein
auktorialer Erzähler oder eine Erzählposition, die nur an der Textoberfläche agiert,
qua Erzählsituation die Darstellung individueller Wahrnehmungen und die Präsentation
der Interaktion zwischen Forscher und Erforschten minimiert, eröffnet erst ein
autobiografischer Ich-Erzähler diese Optionen. Potenziell eröffnet sich mit einer
solchen Erzählposition die Möglichkeit, eigene Emotionen und Empfindungen zu
thematisieren und von der Präsentation eines passiven Beobachter*innensubjekts zur
Darstellung einer aktiven, interagierenden Forscherpersönlichkeit zu wechseln, welche
die wissenschaftliche Urteilsfindung als Ergebnis eines interaktiven Prozesses
referiert. Stellt man diese Konjunktur des autobiografischen Ich-Erzählers in den
Kontext der ethnologischen Writing Culture-Debatte, Diesen Titel trägt der entscheidende Sammelband zu dieser
Debatte; vgl. Clifford 1986. in der die Forderung erhoben wurde, dass
sowohl die Stimmen der beforschten Subjekte als auch die der Forscher*innen zum
Ausdruck kommen sollen, dann wird der Übergang zu einer ›dialogischen‹ oder
›polyphonen‹ Ethnografie insbesondere seit den 1980er Jahren nachvollziehbar.
Ein wissenschaftlicher Autor, der sich in seinem Text in Interaktion mit seiner
Umgebung zeigt – und insbesondere in Interaktion mit seinem Untersuchungsobjekt, den
Menschen und ihrem Verhalten, das er analysiert –, bedarf ganz offensichtlich aber
auch einer Absicherung durch eine Instanz, die ›von außen‹ kommt und ihn als Erzähler
legitimiert. Dies ist die Funktion der Kurzbiografien und Blurbs, die die Verlage einfügen, und die die Autor*innen als
Anthropolog*innen bzw. Ethnolog*innen ausweisen sowie die wissenschaftliche
Institution nennen, in deren Kontext die Studie entstanden ist. So gesehen wird
nachvollziehbar, warum der relative Anteil von Kurzbiografien und Blurbs im Klappentext oder im Haupttext selbst im Zeitverlauf zunimmt. Die
Verlage übernehmen damit eine zentrale Funktion in der Plausibilisierung des
Dargestellten und für die Abgrenzung gegenüber der Autobiografie.
Diese These wird erhärtet durch eine Beobachtung, die am Untersuchungsmaterial
gemacht werden konnte, die sich aber einer einfachen Quantifizierung entzieht. Bei
der Erfassung der hervorgehobenen Zitate und ihrer Nachweise trat nämlich hervor,
dass zwar häufig Informant*innen wörtlich zitiert wurden und deren Aussagen nicht
selten auch in direkter Rede oder sogar in Dialogform wiedergegeben wurden. En détail belegt werden diese Zitationen aber zumeist nicht,
und häufig fehlt in den Ethnografien auch ein pauschaler Hinweis auf die »field
notes«, die während der Studie vor Ort niedergeschrieben wurden, oder der Hinweis auf
Tonbandaufnahmen oder gar Videointerviews. Ausnahmen bilden
hier beispielsweise Kulick 1998, passim;
Hecht 1998, passim, die beide auf
Tonbandaufnahmen und angefertigte Transkriptionen verweisen. Selbst wo auf
diese Rohdaten verwiesen wird, haben der*die Leser*in oder Wissenschaftler*in keinen
Zugriff auf sie. Es wurde nämlich kein einziger Nachweis ausfindig gemacht, in dem
formuliert wurde, dass die »field« notes in einer Bibliothek oder einem Archiv
deponiert wurden, um möglicherweise nachfolgenden Generationen von Forscher*innen als
Vergleichsmaterial oder Studienobjekt dienen zu können.
Textpragmatisch gesprochen haben die Leser*innen solcher Studien gar keine andere
Wahl, als dem*der Autor*in zu vertrauen, dass diese ihre Informant*innen wahrhaftig und
aufrichtig zitieren und dass die durch die Autor*innen im Feld gemachten
Beobachtungen glaubwürdig sind. Daher lässt sich hier von einer Analogie zu dem von
Philippe Lejeune formulierten autobiografischen Pakt
sprechen.Lejeune 1975, passim. Lejeune macht in
seinem einschlägigen Werk deutlich, dass bei aller Wahrscheinlichkeit der Referenz
und aller Sicherheit der Authentizität des*der Autors*in die Faktualität des Genres
Autobiografie nur aus einer Behauptung des Textes abgeleitet
werden kann, nämlich dass Autor*in, Erzähler und Protagonist*in identisch und die
geschilderten Ereignisse wahr seien. Der autobiografische Pakt beruht auf der
Bereitschaft der Leser*innen, dieser Behauptung Glauben zu schenken und somit dem
Text einen faktualen Status zuzuschreiben. Analog lässt sich hier daher von einem
ethnografischen Pakt sprechen, den Autor*innen und
Leser*innen einer Ethnografie schließen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass es
eben die Verlage sind, die über ihr symbolisches Kapital als Wissenschaftsverlage und
über die Objektivierung des*der Autor*in als Wissenschaftler*innen in einer biografischen
Kurznotiz Glaubwürdigkeit stiften und diese in Blurbs
bekräftigen, die von externen Autoritäten wie Wissenschaftler*innen oder
Journalist*innen verfasst wurden. Es folgt also einer Binnenlogik wissenschaftlichen
Publizierens, wenn Ethnografien, die in Richtung Autobiografie tendieren, durch die
Beglaubigung der Wahrhaftigkeit des Dargestellten vermittels textexterner Instanzen
abgesichert werden. Und so wird auch nachvollziehbar, dass die Funktion der
Glaubwürdigkeitserzeugung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den
Autor*innen allografer Vorworte hin zu den Wissenschaftsverlagen wechselt, die über
Autor*innenbiografien, Blurbs und Angaben im Impressum
(»nonfiction«) eine Abgrenzung gegenüber Autobiografien und Fiktionen leisten.
Dass die Entwicklung in Richtung ›autobiografischen‹ Schreibens eine Abkehr von den
tradierten Darstellungskonventionen bedeutete, zeigt eine genauere Betrachtung
einiger weniger ausgewählter Werke aus dem untersuchten Korpus. Als Laura Bohannan
1954 ihr Buch Return to Laughter publizierte, wählte sie für die Veröffentlichung das Pseudonym »Eleonore
Smith Bowen«. In einer vorangestellten und mit dem Pseudonym signierten »Note« führt
sie die Leser*innen über den Status des Textes ein: All the characters in this book,
except myself, are fictitious in the fullest meaning of that word. [...] When I write
as a social anthropologist and within the canons of that discipline, I write under
another name. Diese Aussage befremdet, lässt sie doch den ontologischen Status des
Buches im Unklaren – ein Pseudonym stellt bereits eine Fiktionalisierung dar, mithin
muss auch die Erzählerin fiktiv sein und wurde daher auch als »fiktive
Ich-Erzählerin« kategorisiert. Dennoch verdeutlicht die »Note«, worauf es Bohannan
ankommt: Here I have written simply as a human being, and the truth I have tried to
tell concerns the seachange in one’s self that comes from immersion in another and
alien world. Alle Zitate Bohannan (Smith Bowen) 1954, S. V. Die
zweite Ausgabe dieses Werks trägt den Untertitel An anthropological novel,
erschienen Garden City, N.Y.: Doubleday 1964, Bohannan (Smith Bowen) 1964. Es geht also um die
Mitteilung einer Wahrheit, die jenseits wissenschaftlicher Wahrheit liegt, mithin
einer Wahrheit der Fiktion. Offensichtlich wählte Bohannan die Form einer fiktiven
Autobiografie, um den zeitgenössischen Konventionen der Ethnografie zu entkommen;
anscheinend sah sie damals keine andere darstellerische Möglichkeit, um der
»Wahrheit«, um die es ihr geht, zum Ausdruck zu verhelfen.
Colin Turnbull hingegen schien 1961 für die Publikation des Buches The Forest People keinen Anlass für eine Rechtfertigung seiner Darstellungsweise zu sehen. An
diesem Werk tritt zunächst der Verzicht auf fast den gesamten Wissenschaftsapparat
hervor. Das Buch enthält zwar eine Widmung und eine Danksagung, aber lediglich vier
Fußnoten auf 279 Seiten Haupttext. Ein Glossar von fünf Seiten, 3 Karten und 12
Schwarzweißfotos sind vorhanden, Anhänge, Bibliografie, Inhaltsverzeichnis, und Index
fehlen völlig. Ein autobiografischer Ich-Erzähler – textextern abgesichert durch eine
biografische Notiz zum Autor auf den letzten Seiten des Buches – berichtet über seine
Erlebnisse mit den Pygmäen in Ruanda und Burundi, wobei seine Informant*innen
häufiger in direkter Rede wiedergegeben werden.Turnbull 1961;
direkte Rede z. B. auf S. 50, 75, 79, 136, 156, 224. Den Erinnerungen von
Michael Korda, Turnbulls Lektor und Verleger bei dem New Yorker Verlag Simon &
Schuster lässt sich entnehmen, dass Turnbull und Korda zusammen in Oxford studiert
hatten und diese persönliche Verbindung ganz offensichtlich die Grundlage für die
Publikation einer Ethnografie in einem Publikumsverlag darstellte. Die Tatsache, dass
das Buch bis 1999 gedruckt wurde und sich daher einer nachhaltigen Aufmerksamkeit
erfreute, vermerkt Korda nicht ohne Stolz.Korda 1999, S.
81.
Korda war als Lektor auch dafür verantwortlich, das Simon & Schuster die Rechte
an einer anthropologischen Dissertation erwarb, die in einer Form präsentiert wurde,
die kaum von einer Autobiografie zu unterscheiden ist. Carlos Castanedas 1972
publiziertes Werk Journey to Ixtlan. The Lessons of Don Juan verzichtet nahezu vollständig auf Paratexte. Es finden sich lediglich ein
Inhaltsverzeichnis und eine achtseitige »Introduction«, in der der Autor – wie in
Autobiografien üblich – die Authentizität des Niedergeschriebenen und die
Wahrhaftigkeit der Darstellung beglaubigt.Castaneda 1972, S.
7. Bei dieser Hardcoverausgabe blieb der Schutzumschlag nicht erhalten und konnte
daher nicht in die Untersuchung miteinbezogen werden. Durch die zahlreichen
Dialoge, die in diesem Buch wiedergegeben werden, nähert es sich formal allerdings
eher dem Roman als einer Autobiografie an; es findet sich kein Hinweis darauf, dass
der Autor ein Aufnahmegerät benutzt hat, um seine Konversationen mit Don Juan zu
dokumentieren. Gelegentlich finden sich im Text authentifizierende Zeitangaben wie
Friday, June 30, 1961Castaneda 1972, S. 89. oder
Wednesday, December 12, 1962.Castaneda 1972, S. 262.
Das Vertrauen der Leser*innen in die Wahrhaftigkeit des Wiedergegebenen wird aber
unterminiert, da die jüngste Zeitangabe im Buch zehn Jahre vor der Datumsangabe
liegt, mit der die »Introduction« signiert ist. Dennoch wird es nicht zuletzt diese
behauptete Authentizität gewesen sein, die die Marktförmigkeit des Werkes garantierte
und damit die Grundlage für einen Publikumserfolg bereitstellte: Our edition of The
Teachings of Don Juan, despite a certain skepticism at S&S [Simon &
Schuster], pole-vaulted onto the best-seller list, and for the next ten years,
Castaneda, in book after book, became a staple in our lives, one of the props on
which the success of the new post-Gottlieb S&S rested.Korda 1999, S. 283. Bereits zuvor hatte Korda ein weiteres Erfolgskriterium für
Castanedas Buch identifiziert: In the drug-obsessed culture of the late sixties
and early seventies, it was hardly surprising that Castaneda’s doctoral thesis
should have broken out of the academic world to become a local best-seller, though
it was very possible the first (and last) doctoral thesis to do so. Korda 1999, S.
277.
Während Turnbull und Castaneda deutlich die Konventionen wissenschaftlicher
Publikationen ignorieren, bleibt Marjorie Shostaks 1981 publizierte Ethnografie Nisa weitgehend den Traditionen wissenschaftlicher Veröffentlichungen treu. Die
Studie enthält eine »Introduction«, einen »Epilogue« und 70 Endnoten auf 371 Seiten
Haupttext. Im Endnotenanhang werden zu jedem Kapitel kumulativ bibliografische
Hinweise gegeben; ein Glossar und ein Index vervollständigen das Repertoire
objektivierender Paratexte. Anders aber als sämtliche Ethnologien im untersuchten
Korpus zuvor präsentiert Nisa die Aussagen der Informant*innen nicht als kurze, im Text hervorgehobene
Zitate, sondern als Teil des Haupttextes. Der Wechsel von der Stimme der
autobiografischen Ich-Erzählerin zur Ich-Erzählung der Informant*innen erfolgt stets
im Wechsel. Wie Shostak in der »Introduction« angibt, wurden diese Textteile aus 21
Interviews kompiliert, die auf Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert
und übersetzt wurden.Shostak 1981, S. 38f. Da diese
Aussagen der Informant*innen etwas mehr als die Hälfte des Haupttextes einnehmen (169
von 332 Seiten oder 51%), kann diese Studie im Rahmen des Untersuchungskorpus als
erste Ethnografie gelten, die eine »dialogische« Ethnologie praktiziert.
5. Diskussion
Ethnografien als wissenschaftliches Genre, das zwischen wissenschaftlichen
Monografien mit einem pluralis auctoris und Autobiografien
oszilliert – auf diese Formel lässt sich die Auswertung der erhobenen Daten bringen.
Dieses Oszillieren lässt sich als Suche nach einer Darstellung verstehen, die adäquat
wiedergibt, dass der*die Ethnologe*in nicht mehr als externe Beobachter*in konzipiert
wird, sondern vielmehr als forschende Subjekt, das als mit seiner Umwelt interagierende*r
Akteur*in und zugleich als wissenschaftliche*r Beobachter*in verstanden wird. Die Tatsache,
dass diese Doppelrolle je später im 20. Jahrhundert, desto häufiger gewählt wird,
indiziert einen Wandel im Verständnis ethnologischer Objektivität. Der Spagat, der
sich aus der Doppelfunktion der Ethnolog*innen als Akteur*innen und
Beobachter*innen ergibt, verdeutlicht dabei zum einen das Korsett tradierter
wissenschaftlicher Präsentation bzw. der Darstellungskonventionen, zum anderen
verweist er auf die Schwierigkeiten der Darstellung, denen sich die Ethnologie vor
allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stellen hatte. So wird
nachvollziehbar, warum die Ethnologie eine fachspezifische Debatte zu diesem Thema
geführt hat, die unter dem Label Writing Culture ihren
Ausdruck fand. Die Inhalte dieser disziplininternen Auseinandersetzung werden anhand
der in dieser Studie ausgeführten Erkenntnisse bestätigt und erstmals objektiviert,
vor allem anhand des Übergangs zur Autobiografie, der Verschiebung hin zu
subjektivierenden Paratexten und der Ablösung von tradierten
Darstellungskonventionen.
Die vorliegende Studie konnte mit 103 Ethnografien nur einen kleinen Teil des
möglichen Textkorpus in den Blick nehmen. Gleichzeitig hat sie die Herausforderungen
aufgezeigt, die sich stellen, wenn ein Korpus untersucht werden soll, das zum großen
Teil im 20. Jahrhundert gedruckt wurde, allen voran die Schwierigkeit der Textauswahl
und der manuellen Datenerhebung auf der Grundlage der gedruckten Werke. Dennoch
konnte diese Pilotstudie auf Basis der getroffenen Textauswahl Hypothesen
formulieren, die relevante Einsichten in die Geschichte der Ethnologie vor allem des
vergangenen Jahrhunderts liefern. Da bereits zwei weitere Paratextstudien auf der
Grundlage anderer Korpora vorliegen, die die Leistungsfähigkeit der Methode unter
Beweis stellen,Lehmann 2017;
Kilchör et al. 2018.
sollen im Folgenden Überlegungen angestellt werden, welche Fragestellungen mit einer
Paratextanalyse fruchtbar beantwortet werden können, und Möglichkeiten aufgezeigt
werden, wie sich gegebenenfalls der Prozess der Datenerhebung automatisieren
lässt.
Wie an den obigen Ausführungen deutlich geworden ist, stellen Paratexte den
Übergangsbereich dar, in dem zum einen die Vermittlung der individuellen
Textgestaltung durch die Autor*in mit den zeitgenössischen, vor allem durch Verlage
geprägten Konventionen vorgenommen wird, zum anderen reflektieren sie die jeweiligen
Genremerkmale und lassen die Übergangsbereiche zwischen unterschiedlichen Genres
erkennbar werden. Während im vorliegenden Fall die Übergänge zwischen
wissenschaftlichen Monografien mit umfangreichem Verweisapparat und autobiografischen
Texten deutlich wurden, lassen sich mit der präsentierten Methodik
literaturgeschichtlich relevante Fragestellungen beantworten, ohne dabei auf die
zeitgenössischen und recht wandelbaren Genrebegriffe zurückgreifen zu müssen. Vgl. zu dieser Problematik ausführlich
Underwood 2019, S.
34–67. Ertragreich wäre hier beispielsweise eine diachrone Untersuchung der
Entdifferenzierung literarischen und geschichtswissenschaftlichen Erzählens in der
Phase der Etablierung der historischen Wissenschaften, d. h. etwa von der Mitte des
19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine weitere mögliche
Fragestellung fokussiert auf die Unterscheidung fiktionaler und nichtfiktionaler
Texte, Dazu schon ausführlich Piper 2018, S. 94–117.
beispielsweise auf die Differenzierung zwischen Fiktion und Biografie seit dem Jahr
1700. Hierzu schon Underwood 2019, S. 1–33. Die
beiden genannten Studien von Piper und Underwood basieren hier bislang ausschließlich
auf dem Wortmaterial, das in den Texten verwendet wird. Zu diesen Analysen würde die
Untersuchung von Paratexten eine wichtige literatursoziologische Dimension und eine
hohe Tiefenschärfe hinzufügen, indem sie die zeitgenössischen
Präsentationskonventionen herausarbeitet, ohne sich dabei auf eine Norm stützen zu
müssen, die nur zu einer bestimmten Zeit gültig war. Es leuchtet daher ein, dass sich
eine solche Untersuchung eher im Bereich der Cultural
Analytics befinden würden und weniger im Bereich der
Wissenschaftsgeschichte wie die vorliegende Studie.
Die Hinwendung zu literaturgeschichtlichen Fragestellungen eröffnet darüber hinaus
die Chance, die Erfassung von Paratexten zu automatisieren und damit die Größe des
Untersuchungskorpus bedeutend zu erweitern. Üblicherweise werden nämlich
retrodigitalisierte Werke nach dem Scannen einer Optical Character
Recognition (OCR) unterzogen und deren Ergebnisse im Standardformat ALTO (Analyzed Layout and Text Object) abgelegt, einem offenen
XML-Schema zur Beschreibung von Layoutinformationen digitalisierter Objekte. Im
ALTO-XML finden sich nicht nur der erkannte Text, sondern auch Informationen zum
Papierformat und zur Position und Größe der erkannten Zeichen. Paratextuelle
Informationen wie Titel, Untertitel, Widmung, Motto, Zwischentitel sowie Fuß- und
Endnoten können an der Größe des Schriftsatzes sowie ihrer Position auf jeder
einzelnen Seite ausgelesen werden. Eine mustergültige Analyse
wurde am Beispiel finnischer Zeitungen von Mäkelä et al. 2019 vorgelegt.
Vor- und Nachworte, Danksagungen, Einführungen, Bibliografien, Indizes und Glossare
können durch den Abgleich mit den Inhaltsverzeichnissen identifiziert und ihre
Umfänge quantifiziert werden. Die manuell nicht oder nur schätzungsweise zu
erfassende Zeichenzahl von Fuß- und Endnoten kann hier korrekt erfasst werden, ebenso
wie die Häufigkeit und der Umfang hervorgehobener Zitate im Text. Schließlich kann
die Häufigkeit der Personalpronomina »ich« und »wir« sowie ihre Verteilung über den
Text hinweg bestimmt und so eine erste Einschätzung im Hinblick auf die verwendeten
Erzählpositionen erlangt werden.
Für die Bestimmung der komplexeren textinternen Signale wie Erzählposition und
Unterscheidung von Homo- und Heterodiegese sowie ggf. interne Fokalisierung ist
die Anwendung von machine-learning-Verfahren denkbar. Hierbei
wird ein Teil des Untersuchungskorpus als Ausgangspunkt genommen und wie eben
beschrieben die relevanten Daten aus dem ALTO-XML ausgelesen. Darüber hinaus
bestimmen zwei menschliche Annotator*innen die Erzählpositionen und nehmen die
Unterscheidung von homodiegetischer und heterodiegetischer Ebene vor. Mit den
zusammengeführten Daten wird anschließend eine Maschine trainiert, die die gelernten
Muster auf bislang ungesehene Werke anwendet. So dürfte sich ein verhältnismäßig
kleines Korpus rasch auf mehrere hundert oder tausend Werke erweitern lassen. Da die
Beschäftigung menschlicher Annotator*innen klare Richtlinien erfordert, eröffnet sich
darüber hinaus die Möglichkeit, einen »shared task« für die Annotation der
Genette’schen Konzepte zu entwickeln und so eine automatische Annotation für die
Objektbereiche Erzählposition und Homo-
und Heterodiegese zu erreichen. Vgl.
hierzu bereits den »shared task« zu narrativen Ebenen von Reiter et al.
2019.
Wo wie eben beschrieben die automatisierte Erfassung größerer Textkorpora
realisierbar zu sein scheint, stellt sich die Frage, ob ein Festhalten an der rein
numerischen Erfassung der Paratexte sinnvoll ist. Das in der vorliegenden Studie
erfasste Korpus von 103 Texten bleibt für diejenigen, die die Werte erheben, noch
überschaubar, und die Hypothesenbildung erfolgt zeitgleich mit der Datenerhebung.
Größere Textkorpora aber lassen sich auf diese Weise nicht mehr erfassen und
überblicken, und insbesondere die Beobachtung von Übergängen zwischen
unterschiedlichen Gruppen von Texten wird diffizil. Daher erscheint es geboten, die
hier verwendeten, ausschließlich auf numerischen Werten beruhenden Clustering-Verfahren durch Algorithmen zu ergänzen, die in der Lage sind,
inhaltliche ebenso wie numerische features auszuwerten. Eine
solche Herangehensweise ist beispielsweise in der Lage, textuelle Signale wie etwa
charakteristische Authentifizierungsstrategien in Vorworten zu berücksichtigen, und
sie kann auf diese Weise maßgeblich zur Einschätzung beizutragen, ob ein Text als
fiktional oder nicht-fiktional einzuordnen ist. In der Dramenanalyse hat hier bereits
der Einsatz eines Random Forest Classifiers vielversprechende
Ergebnisse gezeigt. Vgl. hierzu
Krautter et al. 2018.
Während also die auf numerischen Werten beruhende Clusteranalyse die Textgruppen und
ihre Übergänge insgesamt in den Blick nimmt, kann der Einsatz eines Random Forest Classifiers dazu beitragen, das Profil einer jeden
Textgruppe schärfer herauszuarbeiten.
Insgesamt zeichnet sich damit die Möglichkeit ab, komplexe Modelle zu entwickeln, die
in der Lage sind, jene Kulturtechniken zu objektivieren, deren sich der gedachte
Leser der Einleitung selbstverständlich und wohl auch unreflektiert bediente, in
denen aber das Wissen um wissenschaftlich-objektivierende und
narrativ-subjektivierende Darstellungskonventionen gebunden ist.
Primärliteratur (Korpus der untersuchten Werke)
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