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Ausgewählte Beiträge der Symposienreihe Digitalität in den Geisteswissenschaften 2017 an der Universität Bayreuth
Transformation der WORD-Vorlage nach XML/TEI-P5 durch Apache TIKA 1.7 und XSLT
Lektorat des Textes durch die Universität Bayreuth, Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft.
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Die Digital Humanities eröffnen neue Wege sich literarischen oder historischen Quellen zu nähern. Sie ermöglichen eine breit angelegte Datenanalyse von kulturellen Artefakten, und darin kann sicherlich das innovative Potenzial der Digital Humanities gesehen werden. In diesem Beitrag möchte ich aber diskutieren, wie der tatsächlich disruptive Einfluss der Digital Humanities daher kommen könnte, dass sie die kollaborativen Praktiken der Softwareentwicklung in die geisteswissenschaftliche Forschung einführen, um mit den Komplexitäten der digitalen Welt umzugehen.
The Digital Humanities open up the possibility to access literary and historical sources in new ways. They enable the large-scale data analysis of cultural artifacts, which can be understood as the highly innovative potential of the Digital Humanities. However, in this article I argue that the truly disruptive power of the Digital Humanities could come from the necessity of introducing collaborative practices from software development into humanities research in order to deal with the complexities of the digital realm.
Wenn Historiker in einiger Zeit auf die ersten zwei Dekaden des zweiten Jahrtausends zurückblicken, werden sie aller Wahrscheinlichkeit eine Welt im Wandel erkennen, die nicht nur von großen geopolitischen und kulturellen Konflikten gekennzeichnet war, sondern die starken technologischen Veränderungen unterlag. Aus heutiger Perspektive ist es noch höchst unklar, wie sich dieser technologische Wandel konkret weiter fortsetzen wird, aber es ist klar, dass die Digitalisierung dabei eine entscheidende Rolle spielen wird.
Verschiedenste Szenarien dieses digitalen Wandels werden momentan angeboten
und erzählen die Geschichte einer neuen Arbeitswelt, in der die
Digitalisierung die Arbeit von Anwälten, Steuerberatern und Ärzten so
übernehmen wird, wie es die Maschinen in den industriellen Revolutionen der
letzten Jahrhunderte in der Landwirtschaft, im Handwerk oder in der
Textilproduktion getan haben. Neue Technologien wie AI, Big Data oder Block
Chain werden oft als disruptiv
gekennzeichnet, was bedeuten
soll, dass sie solche einschneidende Veränderungen lostreten werden, dass
bald nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.Disruptive Technologies
, die Diskussion um disruptive
Technologien, Technologien, die die Dominanz von bestimmten Firmen in
technologischen Märkten stark verändern können, maßgeblich bestimmt,
vgl. Bower /
Christensen 1995, passim.
Friedrich Kittler hat eine Austreibung des Geistes aus den
Geisteswissenschaften bereits vor einiger Zeit beschworen, die
Programme
, die dies leisten sollten, hatten zwar schon
etwas mit dem Computer zu tun, aber waren eher vom Computer als
Lese-/Schreibmaschine inspiriert, als dass sie den Computer als etwas
begriffen, das die Arbeit des Geisteswissenschaftlers übernehmen und so den
menschlichen Geist ein Stück aus den Geisteswissenschaften verbannen würden;
es ging bei Kittler vielmehr darum, dass die geisteswissenschaftliche
Hermeneutik nicht Produkt des inspirierten menschlichen Geistes sondern ein
Ergebnis von Informationsströmen und Nachrichtenverarbeitung war.
Die Digital Humanities liefern durch diese Einbindung digitaler Verfahren
neue Werkzeuge und Fragestellungen. Im philologischen Bereich treten sie
besonders durch die Enkodierung von Texten in XML (TEI)-Format und
quantitative Verfahren wie dem Distant Reading
hervor.Die
Forscherinnen und Forscher in diesem Feld beschäftigen sich damit
neue Entwicklungen in der Informatik auf ihre Verwertbarkeit in den
Geisteswissenschaften zu prüfen oder eigenständig geeignete
Verfahren zu entwickeln, und sie erforschen die Algorithmen und
Datenstrukturen, die sich als geeignet erwiesen haben.
, Jannidis et
al. 2017, XI.post-theoretical
Ansatz sehen, der einen
potenziellen Methodenstreit, wie es ihn die achtziger Jahre geschehen
ist, verhindert, vgl. Burdick et al. 2012, passim.
Für andere Ansätze in den Digital Humanities, die sich einer weiteren
Theoriediskussion öffnen vgl. bspw. Limpsel 2016,
passim.
Zu den Stimmen, die in den Digital Humanities einen solchen fundamentalen
theoretischen und kulturellen Wandel erkennen, gehört Jeffrey Schnapp, der
in seinem Digital Humanities Manifesto
Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieser experimentelle Umgang nicht einfach eine Öffnung der Geisteswissenschaften hin zu Fragen von Design oder ›creative research‹ ist, sondern vielmehr als Adaptation von Methoden aus digitalen Arbeitsbereichen wie Softwareentwicklung zu beschreiben ist, und dass Formen des Projektmanagements aus der Softwareentwicklung es notwendig machen, die Digital Humanities als einen Bereich zu verstehen, der Kooperationsformen ausbilden wird, die mit den etablierten Formen der Arbeit in den geisteswissenschaftlichen Bereichen nicht einfach zu vereinbaren sein wird. Es geht mir in diesem Aufsatz darum zu diskutieren, dass die Entwicklung von Software, und viele Projekte in den Digital Humanities sind genau dies, nicht die Arbeit eines einzelnen Individuums abbilden, sondern in einem Team geschehen, was signifikante Auswirkungen auf die Praktiken, aber auch auf die Evaluierungsvorgänge und Institutionen der Geisteswissenschaften haben könnte.
Die Entwicklung von digitalen Objekten (Programmen, Datenbanken etc.) zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht einfach als statisch zu begreifen sind, sondern ständig gewartet und weiter entwickelt werden sollten. Kurz gesagt besteht Softwareentwicklung nicht nur in der Konstruktion eines statischen Produktes, sondern in der Historisierung und Archivierung seiner Objekte, da an ihnen von anderen Entwicklern weitergearbeitet werden könnte, und so dauerhaft der Status und die Struktur des Programms kommuniziert werden muss. In dieser Hinsicht hat das Programmieren einiges mit der Arbeit des Philologen gemeinsam. Wie in der Philologie so wird auch beim Programmieren ein Text nach bestimmten Standards aufgearbeitet und kommentiert. Die Arbeit des Programmierers geht aber über die des Philologen hinaus, da die Informatik die Dynamik ihrer Produkte in einer viel radikaleren Art und Weise fasst als die Philologie.
Die Differenz kann wie folgt beschrieben werden: Während der Philologe einen
historischen Bestand feststellen
will, konstruiert der
Programmierer ein Programm, in dem die Entwicklung und Überarbeitung von
Anfang an mitgedacht wird. Am augenfälligsten ist diese Differenz bei der
Kommentierung von literarischen Quellen, bzw. von Computercode. Während die
philologische Sicherung durchaus einer Fixierung bedarf, muss das Wissen im
Digitalen als etwas Organisches begriffen werden, das wachsen kann.
Einfacher gesagt, Kommentare in Büchern konnten als integraler und
geschlossener Teil einer Edition verstanden werden, bei einem
Computerprogramm dient der Kommentar dazu, dass dieses Programm von anderen
Entwicklern weitergeschrieben werden kann, sie sind Teil des Programms, aber
nicht nur um das Programm zu verstehen, sondern um an ihm
weiterzuarbeiten.
Dieser Fokus auf Evolution innerhalb der Softwareentwicklung macht Software zu einem äußerst dynamischen, temporären Konstrukt, und um mit dieser Komplexität umzugehen, hat das Softwareengineering eigene Praktiken entwickelt, die ich im Folgenden diskutiere, und ich möchte fragen, wie sie in der philologischen bzw. geisteswissenschaftlichen Praxis aufgenommen werden können: es sind Agilität, Versionierung und Open Source.
Agilität
verweist dabei auf ein zentrales Verfahren im
Projektmanagement, das besonders stark Rückhalt in der Softwareentwicklung
gefunden hat und den offenen Charakter von Produktentwicklung betont. Mit
Versionierung
meine ich sowohl die technischen
Möglichkeiten des Archivierens und Dokumentierens von verschiedenen
Entwicklungsschritten in der Softwareentwicklung als auch ein
grundsätzliches Denken in Versionen, was eine Herausforderung für die
Geisteswissenschaften darstellen könnte. Open Source
verweist
auf die offene Distribution aber auch auf die Produktion von Software, die
ich als ein sinnvolles Arbeitsmodell für neue Formen
geisteswissenschaftlicher Arbeit sehe.
Diese Zusammenstellung von Agilität, Versionierung und Open Source hat keinen Anspruch darauf, einen vollständigen Überblick von Verfahren der Softwareentwicklung zu geben, sondern versteht sich vielmehr als ein Ensemble von Prozessen, die große Veränderungen in geisteswissenschaftlichen Praktiken hervorrufen könnten, und zwar in der Hinsicht, dass die Digital Humanities ein Paradigma geisteswissenschaftlichen Arbeitens repräsentieren, in dem es nicht mehr primär um individuell erbrachte Ergebnisse sondern vielmehr um in einer Gruppe entwickelte Experimente geht – sie sozusagen als eine Wissenschaft begreift, die auf Teamwork und Experimentierwillen fußt.
Die Entwicklung von Informationstechnologien ist komplex, und beruht
darauf, dass eine Vielzahl von Problemen bewältigt und abgearbeitet
wird. Software ist dabei zwar ein textuelles System (d.h. es besteht aus
einem Text, dem Programmcode), es ist aber ein System, das aus einer
Vielzahl von Elementen zusammengesetzt ist, die ineinandergreifen und
dies auch am besten fehlerfrei tun.
Historisch gesehen geht Informationstechnologie aus groß angelegten
Projekten hervor, die auf den frühen Großrechnern beruhten und auch mit
dem Internet werden IT-Projekte schnell zu Unterfangen von höchster
Komplexität.
Das prototypische Beispiel eines linearen Projektmanagementmodells ist
das Wasserfall
-Modell. Das Wasserfall-Modell basiert auf
einem linear ablaufenden Projektprozess bei dem zunächst Spezifikationen
bestimmt, dann diese Spezifikationen umgesetzt und getestet werden, um
dann dem Kunden die fertige Software zu übergeben. Das Problem bei
diesem Verfahren ist, dass zwischen Planung und Umsetzung sehr viel Zeit
vergehen kann, ohne dass es zu einer Überprüfung oder Veränderung durch
den Kunden kommt. Das ist problematisch, da gerade was
Informationstechnologie angeht, die Entwicklungen immer schneller
laufen. Es gibt immer wieder neue Plattformen, Browser etc. die zu
Anfang eines Projektes nicht berücksichtigt wurden, aber dennoch über
die Laufzeit eines Projektes hinweg relevant für den Kunden werden.plan-driven
Entwicklung zu statisch
ist. Bereits der kanonische Text zum Waterfall-Model (vgl. Royce
1970) war eine Reflexion, die diskutierte, warum ein
linearer Projektablauf nicht ohne iterative Phasen auskommen
kann.
Agilität zeichnet sich kurzgesagt durch einen iterativen Prozess aus, bei
dem Kunden nicht einfach das Endprodukt gezeigt wird, sondern bei dem
Kunden nach bestimmten Zeitabschnitten, das Produkt bzw. Produktfeatures
vorgestellt werden. Das hat den Vorteil, dass nun der Kunde noch
Modifikationen beauftragen kann. Es geht dabei darum im
Entwicklungsprozess so früh wie möglich auf Fehler und Abweichungen
aufmerksam zu werden und dann die notwendigen Umstellungen noch in den
Entwicklungsprozess einzubinden.
Agile Verfahren der Softwareentwicklung sind nichts radikal Neues. Es
gibt Diskussionen, die sie bereits in den fünfziger Jahren entstehen
sehen. Ein Fokus auf agiles Arbeiten lässt sich aber verstärkt in den
neunziger Jahren erkennen, eine Zeit, in der agile Verfahren wie Scrum
oder extreme Programming ausformuliert wurden.continous delivery
(also die sequentielle Lieferung
kleinerer Bestandteile der Software), starke Einbindung des Kunden und
den klaren Einsatz von iterativen Verfahren ein.
Eine Neuerung, die die Digital Humanities in den
geisteswissenschaftlichen Betrieb einführen, ist eine stärkere
Abhängigkeit von Projekten.
Geisteswissenschaftliche Projekte erscheinen mir dabei in den meisten
Fällen auf einer Waterfall
-Methode aufzubauen. Es gibt
zwar in den Geisteswissenschaften keine wirklich explizite Tradition des
Projektmanagements, die Antragspraxis, die bei den meisten nationalen
Förderungsvereinigungen vorliegt, ist jedoch ein System, das zunächst
einen Projektantrag voraussetzt, der klar die Spezifikation und den Sinn
des Endproduktes beschreibt.Ein hinsichtlich
der Ziele und der Methodik genau beschriebenes, zeitlich
begrenztes Projekt (max. 48 Monate) auf dem Gebiet der nicht auf
Gewinn gerichteten wissenschaftlichen Forschung
und
setzt damit voraus, dass die Ziele am Anfang so gut wie möglich
definiert sind, vgl. FWF Antragsrichtlinien für
Einzelprojekte.Digitalisierung
.
Neben einer Beurteilung der momentanen Projektpraxis ist auch die Frage,
ob sich agile Methoden für die Humanities eignen oder wie sie in den
Geisteswissenschaften benutzt werden können, und ob das
Projektmanagement, wie es in der Wirtschaft angewandt wird, sich nicht
unmittelbar auf die Anforderungen der akademischen Forschung übertragen
läßt.
Ein Element, das zentral für agile Methoden ist, und erst in dieser Form
für die Geisteswissenschaften nachkonstruiert werden müsste, ist das
Verhältnis vom Projektteam zum Kunden. Das agile Verfahren geht von
einem Kunden aus, der in das Projekt mit eingebunden ist und dessen
Entwicklung begleitet.Customer
collaboration over contract negotiation
. Tabak erkennt
auch in der (in den Geisteswissenschaften fehlenden) Rolle des
Kunden und in der emergenten Natur von Wissen, die zentralen
Probleme das agile Verfahren anzuwenden: However, there are
several issues, which prevent some aspects of agile project
management to be easily translated into DH research projects.
The agile methods assume that there is a customer on the other
side waiting for a product to be used, while in a DH project,
there is a researcher constantly creating research questions
rather than a list of features to be implemented
, Tabak 2017,
S. 19.
Diese Strategien könnte man in den Digital Humanities einsetzen, wenn es um Produkte geht, bei denen das Ergebnis mehr oder weniger klar ist – bspw. eine digitale Edition. Wenn es aber um Forschungsaktivitäten geht, die Wissen nicht konservieren, sondern neues Wissen produzieren sollen, ist die Situation schwieriger, aber genau hier liegt die Stärke agiler Verfahren.
Aufgrund der emergenten Natur von Wissen, kann ein Forschungsunternehmen, das zu Beginn seine Ziele klar darstellt, nur trivial sein. Gerade in den Geisteswissenschaften geht es eben nicht darum Hypothesen zur formulieren und abzutesten, sondern die Forschung in eine Richtung gehen zu lassen, die eben nicht einfach aus den anfänglichen Annahmen abzuleiten war. Geisteswissenschaftliche Forschung kann in einer radikalen Weise experimentell sein, da es in den meisten Fällen um ein diskursives Erschließen von Wissensbereichen geht, bei der es das Ziel ist, neue Probleme und Fragestellungen zu entdecken. Geisteswissenschaftler verhalten sich somit in einer bestimmten Art und Weise immer agil – es geht darum ein Wissensgebiet aufzuschließen und zu sehen, in welche Richtung diese Erkenntnisse einen nun bringen können. Dies ist eine explorative Struktur, die gut an ein agiles Denken angepasst werden kann.
In diesem Zusammenhang würde man die Forschung in verschiedene Zeitabschnitte (Sprints oder Iterationen) einteilen. Das Ziel des gesamten Forschungsprojekts sollte relativ offen formuliert werden und nach jeder Iteration sollte in einem Review beurteilt werden, was die entscheidenden Ergebnisse waren und was der Schwerpunkt der nächsten Iteration sein sollte. Es ist klar, dass ein solches Verfahren in den Digital Humanities nicht benutzt werden kann, um infrastrukturelle Projekte durchzuführen. Es ist aber ein Verfahren, das dringend notwendig ist, um Geisteswissenschaftler mit neuen Technologien experimentieren zu lassen und einen neuen Erkenntnishorizont zu entwickeln. Es handelt sich hierbei dann keinesfalls um Spielereien, sondern um eine Arbeitsweise, die das Lernen und die Emergenz von neuem Wissen und Forschungsmöglichkeiten in das Zentrum stellt.
Das klassische, national geförderte Forschungsprojekt ist dabei
allerdings ein schlechtes Modell, da es die Evolution der
Wissensgeneration von Anfang an in ein zu striktes Korsett packt. Ein
Umfeld, was diese Form von Projekten begünstigt, wäre etwas, was
momentan öfter unter dem Titel Lab
zu finden ist, dabei
allerdings dezidiert geisteswissenschaftliches Wissen in Verhältnis zu
digitalen Technologien stellt. Institutionen dieses Typs sind bspw. das
Signallabor an der HU Berlin, das Media Archaeological Lab in Boulder
oder das Meta Lab in Harvard.Ich habe das MAL für
meine eigene Forschung genutzt, um nichtlineare und
nicht-zielgerichtete Reihen von Medienphänomenen – oder Brüchen
– zu beschreiben. Auf diese Weise wollte ich die Vorstellung
einer Mediengeschichte des Fortschritts vermeiden, die
weitgehend vernachlässigte, gescheiterte oder tote Medien
ignoriert. Ich habe jedoch bald festgestellt, dass diese
Forschung nur eine der möglichen Anwendungen ist, die das MAL
seinen Nutzern gewährt. Heute verstehe ich das MAL als eine Art
eigenständigen ›variantologischen‹ Raum – ein Ort, der je nach
Herangehensweise unzählige Möglichkeiten für Forschung und Lehre
eröffnet oder für andere, weniger klar definierte Tätigkeiten,
welche durch eine Sammlung ermöglicht werden, die Objekt und
Werkzeug zugleich ist. Das MAL ist ein Archiv für originale
Werke der digitalen Kunst/Literatur und die Plattformen, auf
denen sie entstanden sind. Es ist aber nicht nur ein Archiv für
Medienobjekte, sondern auch ein Ort für künstlerische
Experimente und Projekte wie: ›MALpractices‹ (Wohnsitze für
Künstler und Schriftsteller, die zum einen zum direkten Arbeiten
und Experimentieren mit unseren Text und Materialien genutzt
werden können, [...].
, Emerson 2014, S.
18–19.
Es kommt hinzu, dass diese offene Dynamik nicht nur ein Managementtool ist, sondern eine Reaktion auf die prinzipiell offene Entwicklungsstruktur von Softwareprojekten. Softwareprojekte sind keine monolithischen Konstrukte, die einmal geplant und dann durchgeführt werden, sondern verändern sich ständig in ihrem Durchführungsprozess. Sie produzieren somit ihre eigene Geschichte.
Das Problem und Potenzial von agilen Verfahren besteht darin, dass sie es
ermöglichen, neue Pfade zu eröffnen, die aber nicht einfach planbar und
teleologisch ausgerichtet sind. Ein entscheidender Teil von agilen
Verfahren ist, dass es nicht nur ein Prozess der Produktentwicklung
sondern auch ein Projekt des Lernens ist, in dem Fehler gemacht und
Strategien angepasst werden. Agile Projekte produzieren eine große Menge
von Informationen, die nicht unmittelbar in das Endprojekt einlaufen,
aber als Wissen innerhalb eines Projektteams akkumuliert werden.
In der Softwareentwicklung benutzt man zur Aufzeichnung und Archivierung
des Projektes Versionskontrolsysteme, das bekannteste ist zurzeit Git,
das von Linus Torvalds entwickelt wurde.
Ich denke, dass dies eine Perspektive ist, die den Geisteswissenschaften relativ fremd ist. Das Schreiben von Monographien und auch von Artikeln setzt darauf, dass man ein Endprodukt produziert, das als in sich abgeschlossen publiziert wird. Es gibt vielleicht die gelegentliche Ausnahme einer überarbeiteten neuen Auflage oder Ergänzungen zu einem Text, aber geisteswissenschaftliche Produkte laden meist nicht zum Weiterschreiben sondern zur Kritik ein. Es geht darum, eine Abgrenzung zu finden und nicht darum ein Produkt weiterzuentwickeln.
Der literaturwissenschaftliche Diskurs ist in der Kritik begründet, was auch eine wichtige und sinnvolle Tradition ist. Ich denke aber, dass die Digital Humanities nur bedingt an diese Tradition anschliessen können. Projekte in den Digital Humanities sind Softwareprojekte oder zumindest stark von Softwareprojekten abhängig, die nicht als solide, fertige Produkte zu verstehen sind, sondern als Werkzeuge, die sich entwickeln, was auch die Forschung mit diesen Instrumenten zu einem dynamischen historisch sich entwickelnden Gebilde macht. Deutlich wird dies, wenn wir von Digital Humanities sprechen, die selber Software sind. Hier geht es nicht darum, ein fertiges Produkt abzuliefern, sondern eine mögliche Version vorzustellen, die die weitere Entwicklung eben dieses Systems ermöglicht. Solche Produkte laden nicht zur Kritik sondern zum Weiterarbeiten, zum Erweitern und zum Anpassen an neue Kontexte ein. Dies ist auch der Grund, warum die Produkte und Ergebnisse, die an der Universität oder Bibliotheken produziert werden, Open Source Produkte sein sollten.
Open Source ist bekannt in der Softwareentwicklung als eine offene
Entwicklungsform bei der kollaborativ eine Software entwickelt wird. Das
Betriebssystem Linux ist hier vielleicht das bekannteste und auch
erfolgreichste Projekt in der Open Source Community. Bei Open Source wird
der Quelltext öffentlich freigestellt und prinzipiell kann jeder an der
Software weiterarbeiten.
Friedrich Kittler hat in seiner Rede Wissenschaft als
Open-Source-Prozeß
Eine zentrale Frage ist dabei wie diese Arbeit zu einem Teil des akademischen Betriebs werden kann. Projekte, die Open Source sind, besitzen eine dezentrale Struktur, bei der nicht mehr ein Projektteam an einem Produkt arbeitet, sondern an dem mehrere Projektteams mehr oder weniger unabhängig voneinander ein Produkt entwickeln. Das bedeutet, dass man in den Geisteswissenschaften Projekte von Anfang an als offen gestalten sollte und auch kommuniziert, dass hier Interesse an kollaborativer Arbeit besteht. Es geht hier in einem verstärkten Masse nicht mehr darum, andere Arbeit zu kritisieren und von der eigenen abzugrenzen, sondern vielmehr darum an anderen Projekten mitzuarbeiten.
Die Digital Humanities bieten neue Publikationsformen wie digitale Editionen,
interaktive historische Karten oder dynamische Zeitreihen. Sie profitieren
von groß angelegten Digitalisierungsprojekten und haben nun die Möglichkeit
die Geisteswissenschaften auf einem quantitativen Materialzugriff
aufzubauen, der wenig mit einer doch immer selektiven Lektüre von Quellen zu
tun hat, wie er die bisherige Praxis ist. Nun können immense
geisteswissenschaftliche Daten in Datenbanken gespeichert, strukturiert und
ausgewertet werden. Diese Daten können für Forschungsprodukte verwendet
werden, die diese Daten statistisch verarbeiten oder visuell darstellen. Die
Digital Humanities könnten eine neue Form der Literaturwissenschaft
hervorbringen, die die Erforschung von Literatur nicht mehr als eine
Vielzahl von verschiedenen Lektürepraktiken begreift (Hermeneutik,
Diskursanalyse, Dekonstruktion, etc.), sondern im Kern zu einer Datenanalyse
wird. Franco Morettis Verständnis des Distant Reading
Es ist sicherlich eine wichtige Frage, ob die Literaturwissenschaft in einer
solchen datengetriebenen Disziplin aufgehen sollte, dies ist aber auch nicht
der Fokus meiner Überlegungen in diesem Text.
Foucaults bon mot, dass der Mensch vergehen wird wie der Abdruck eines
Gesichtes im Sand am Meer,
Die Digital Humanities, wenn sie sich auf die technischen Herausforderungen einlassen, die das Medium und die Praktiken aus der Softwareentwicklung vorgeben, unterlaufen diese Betonung des Individuums. Es geht hier nicht mehr darum, dass eine einzelne Person ein komplexes Problem löst. Die Komplexität von Computerapplikationen machte es notwendig, dass diese Komplexität so aufgeteilt wird, dass ein Team kollektiv an diesem Problem arbeiten kann. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu betonen, dass das Internet nicht nur einen globalen Zugang auf Daten liefert, sondern auch eine Kolaborationsplattform darstellt. Da das Internet nun diese neuen Arbeitsmodalitäten anbietet, scheint es mir sinnvoll, dass wir verstärkt nach Arbeitsweisen in den Geisteswissenschaften suchen, bei denen kollaborativ, ähnlich wie bei Open Source Projekten, an Forschungsfragen gearbeitet wird. Dies bietet sich deutlich für die Entwicklung von Software im Bereich der Digital Humanities an, kann aber auch andere Bereiche wie das gemeinsame Schreiben von Forschungsliteratur oder das kollektive Erstellen von Fachlexika betreffen. Was diese Produkte dann gemeinsam haben, ist dass sie aus Kollektiven entstehen und nicht einem einzelnen Genie entspringen.
Aus diesem Grund könnten die Digital Humanities so den Weg zu einer neuen Arbeitsweise öffnen, die auf Teamwork und Experimentierwille fußt, und die starke hierarchische Struktur, die ja eng an die Individualisierungspraktiken der Universitäten geknüpft ist, aushöhlen.
Die Digital Humanities haben das Potenzial, die Geisteswissenschaft von Grund auf zu verändern. Es ist nicht einfach so, dass der Computer oder digitalen Methoden als Ergänzung benutzt werden. Dies ist etwas was wir schon lange tun, wenn wir unsere Texte mit dem Computer schreiben, online Quellen oder Volltextsuchen etc. benutzen. Die Digital Humanities, wenn sie ihr volles Potenzial ausschöpfen wollen, werden eben nicht nur den Computer hinzufügen, sondern neue Praktiken hervorbringen, die mit der Figur des einsam denkenden Gelehrten nicht mehr zu vereinbaren sind.