Synonyme und ähnliche Begriffe: Computerexperiment | digitale Methode | Modell | Rekonstruktion | VR / AR | Visualisierung
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1.
Begriffsdefinition
Der Begriff ›Simulation‹ beschreibt verschiedene → [Methoden](https://zfdg.de/wp_2023_007) der modellhaften und
›experimentellen‹ Nachbildung realweltlicher oder hypothetischer Prozesse bzw.
Systeme.
Grundlage jeder Simulation ist ein ausführbares Simulationsmodell.
Hierunter ist eine eigene Klasse von → [Modellen](https://zfdg.de/wp_2023_009), die
konzeptuell, logisch oder mathematisch ausgedrückt werden können, zu verstehen. Zur
Ausführung eines Simulationsmodells muss dieses aber formalisiert, also in
computerlesbare Form gebracht werden. Im Kontext der Digital Humanities werden
›Simulationen‹ meist mit ›Computersimulationen‹ gleichgesetzt, sie sind also
Simulationsmodelle, die mit Hilfe eines Computers ausgeführt werden können.
Abseits davon gibt es auch Simulationen, die nicht durch Computer ausgeführt
werden müssen. Simulationen im ersten Sinne sind der Fokus dieses
Glossareintrags, aber einige der hier besprochenen Prinzipien treffen auch
auf analoge Simulationen zu. Darüber hinaus werden diese iterativ
und interaktiv gebildet. Mit den Parametern und Eigenschaften des Modells zu
experimentieren, ist ein wichtiger Bestandteil von Simulationsmethoden. Teil einer
Simulation kann eine → [Visualisierung](https://zfdg.de/wp_2023_014) bzw.
ein User Interface sein, das den Ablauf der
Simulation für die Benutzenden lesbar oder sogar manipulierbar macht und Ergebnisse
der Simulation (simulierte → [Daten](https://zfdg.de/wp_2023_003))
darstellt.
In den Geisteswissenschaften werden Simulationen teils als
Analysewerkzeug, teils als didaktisches Werkzeug eingesetzt und sie sind selbst
Forschungsgegenstand.
2. Begriffs-
und Ideengeschichte
Der Begriff Simulation stammt vom lateinischen ›simulatio‹ –
Heuchelei, (Vor-)Täuschung – und beschrieb lange vor allem menschliches Verhalten
und keine wissenschaftlichen Methoden. Unter anderem früh bei Justus Lipsius, vgl.
[Papy
2019](#papy_lipsius_2019). Analoge, simulationsähnliche Methoden, die aber noch nicht
als solche benannt wurden, gab es seit mindestens dem 19. Jahrhundert, z. B. in Form
der zunächst preußischen, später auch US-amerikanischen Plan- bzw. Kriegsspiele Vgl.
[McHugh 1969](#mchugh_years_1969), S.
88–90. oder auch mechanischer Apparate zur Vorhersage von
Tiden. Vgl.
[Rawsthorne 2019](#rawsthorne_tide_2019). Die Wurzeln der Simulation als Erkenntnismethode
reichen weit in die Wissenschaftsgeschichte zurück und sind z. B. eng verwoben mit
dem Begriff des → [Experiments](https://zfdg.de/wp_2023_004),
sowie der Entwicklung von Mathematik (z. B. Differenzialrechnung) und später der
Informatik (z. B. Digitalrechnern). Vgl.
[Gramelsberger 2010](#gramelsberger_computerexperimente_2010). Parallelen
bestehen auch zur Methode des Gedankenexperiments. Vgl.
[Zeimbekis 2011](#zeimbekis_experiments_2011).
Als Begriff für eine wissenschaftliche Methode tauchen
(Computer-)Simulationen explizit ab den 1940er und 1950er Jahren in Zusammenhang mit
der Entwicklung der ersten Atom-, vor allem aber der ersten Wasserstoffbombe
auf. Vgl.
[Goldsman et al. 2009](#goldsman_brief_2009), S. 310–313. Ab den 1960er und insbesondere
in den 1970er Jahren breiteten sich Simulationsmethoden auch in den
Geisteswissenschaften aus. Frühe Anwendungen finden sich vor allem in der
Anthropologie, der Archäologie, den Geschichtswissenschaften, der Pädagogik, der
Psychologie und den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Ein seinerzeit vielbeachteter
Beitrag in der Archäologie bzw. Anthropologie war etwa [Levison et al.
1972](#levison_settlement_1972). Bekanntheit in der breiten Öffentlichkeit erlangten
Simulationen spätestens in den 1970er und 1980er Jahren unter anderem durch das
Simulationsmodell
World3, das die Grundlage für den
Club-of-Rome-Bericht
Limits to Growth bildete, sowie
weiteren Anwendungen aus den Geo- und Sozialwissenschaften. Vgl.
[Meadows et al.
1974](#meadows_dynamics_1974). Seit den 1990er und 2000er Jahren kam eine neue Welle von Simulationsanwendungen auf, insbesondere in Zusammenhang mit sogenanntem Agent-based Modeling, also bestimmten
individuenbasierten Modellierungs- und Simulationsmethoden, sowie Konzepten der
Komplexitätswissenschaften. Vgl. [Wurzer et al. 2015](#wurzer_agent_2015).
3.
Erläuterung
›Modellhafte Nachbildung‹ bedeutet, dass Simulationen auf → [Modellen](https://zfdg.de/wp_2023_009)
basieren, das heißt: Nicht der reale Prozess wird untersucht, sondern eine
reduzierte Auswahl von als wichtig angenommenen Aspekten des Prozesses bzw.
Systems. ›Experimentelle Nachbildung‹ sagt
aus, dass die Modellbildung iterativ und durch wiederholtes Anpassen und Austesten
der Parameter und des konzeptionellen Modells geschieht. ›Realweltlich‹ bzw.
›hypothetisch‹ bedeutet, dass wissenschaftliche Simulationsmodelle immer darauf
abzielen, eine Version der Realität darzustellen. Das kann ein bereits
nachgewiesener Prozess oder ein theoretisch angenommener, also hypothetischer, sein.
Simulationen stellen immer Prozesse bzw. Systeme im Zeitverlauf dar und zielen nicht
darauf ab, nur einen Zustand eines Objekts oder Systems zum Zeitpunkt t zu
untersuchen. Erst die zeitliche Dimension und die damit einhergehende
Veränderlichkeit geben dem Modell Sinn. Das ist ein zentrales Unterscheidungsmerkmal
von Simulationsmethoden gegenüber anderen auf Modellen aufbauenden Methoden.
Konkret wird beim Simulieren also zunächst ein konzeptuelles und
daraus ein formales Modell eines Systems erstellt, welches der Gegenstand einer
bestimmten Forschungsfrage ist. Die Parameter des Modells werden anhand bestehender
Daten oder theoretisch begründeter Annahmen bestimmt. In mehrfachen Ausführungen
wird dann mit den Parametern sowie den konzeptionellen Eigenschaften des Modells
experimentiert. Teil einer Simulation kann eine → [Visualisierung](https://zfdg.de/wp_2023_014) des Simulationsverlaufs sein, z. B. Bewegung
von Individuen im Raum. Die Visualisierung dient dabei dazu, das Verhalten des
Simulationsmodells in Bewegung nachvollziehen zu können. Für manche Simulationsarten
ist die visuelle bzw. allgemein sensorische Erfahrung aber ein integraler
Bestandteil der Simulationsziele, gerade in didaktischen Kontexten. Anhand
verschiedener Methoden wird das Modell abschließend validiert (z. B. mit empirischen
Daten, einer theoretischen Analyse der Zusammenhänge oder mit computationellen
Validierungsmethoden).
3.1
Mehrdeutigkeiten
›Simulation‹ kann in den DH folgendes bezeichnen:
-
wissenschaftliche Simulationsmethoden:
Untersuchung / Verstehen eines Systems, Erklärung eines Prozesses in diesem –
meist komplexen – System; auch zur Vorhersage von Systemverhalten
-
didaktische Simulationsmethoden: Rollen-,
Plan- oder Lernspiel, um bestimmte Perspektiven erfahrbar zu machen; auch, um
Handlungsstrategien zu testen oder um Praktiken zu üben
- ein ludologisches Genre: Videospiele, deren
Inhalt die wirklichkeitsnahe Modellierung realer Prozesse ist
-
virtuelle Rekonstruktionen: sensorische
Erfahrbarmachung eines nicht mehr zugänglichen Raumes. Teils auch 3D-Modell /
-Simulation oder virtuelle Simulation genannt Für einen Einstieg in diese Bedeutung eignet
sich z. B.
[Jannidis et al. (Hg.) 2017](#jannidis_humanities_2017), S. 315–321.
-
kultur- / medienphilosophische Konzepte:
Medial ›simulierte‹ Realität im Gegensatz zur unmittelbar erfahrenen Realität;
auch Literatur als Simulation vorstellbarer Realitäten
3.2
Differenzen der Begriffsverwendung
- Archäologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaften,
Wirtschaftswissenschaften
- Simulation als Analysemethode für komplexe Systeme. Beispiel
: Erforschung jungsteinzeitlicher Wanderungs- und
Siedlungsbewegungen
[Sikk / Caruso 2020](#sikk_agent_2020).
- Virtuelle Simulation / Rekonstruktion / 3D-Modell. Beispiel: Darstellung eines
ottomanischen ›Irrenheims‹
[Wendell et al. 2016](#wendell_framework_2016).
- Erziehungswissenschaften / Didaktik
- Simulation als didaktische Methode, vergleichbar mit Rollenspiel bzw.
Ausspielen eines Szenarios oder Simulationen (Genre) als Lernspiele. Beispiel:
Erforschung der Wirkung von Simulationen und Serious
Games auf Lernstoffvermittlung
[Vlachopoulos / Makri 2017](#vlachopoulos_effect_2017).
- Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften
- Simulation als kultur- und medienphilosophischer Begriff. Medien als
Simulation von Realität und Kultur der Moderne als in zunehmendem Maß durch
mediale Simulation von Realitäten im Gegensatz zu unmittelbar erlebter Realität
geprägt. Beispiel: Simulationstheorie von Jean Baudrillard für (u. a.)
Filmwissenschaften
[Höltgen 2003](#hoeltgen_faq_2003).
- Simulation als Analysemethode. Beispiel: Erforschung von Netzwerkdynamiken im
Verlagswesen
[Gavin 2014](#gavin_agent_2014).
- Ludologie
- Simulation als Genre. Genre von Spielen, die auf die möglichst realitätsnahe
Nachbildung eines Szenarios / einer Tätigkeit abzielen bzw. zur Beschreibung von
Subsystemen von Videospielen, die auf realitätsnahe Nachbildung abzielen.
Beispiel: Postmoderne Dimensionen simulierter Landschaften und Räume in
GTA V
[Fontaine 2017](#fontaine_landschaften_2017).
- Philosophie
- Reflexion von Simulation als Erkenntnismethode. Beispiel:
Erkenntnistheoretische Grundlagen und Implikationen von Simulationen
[Krämer 2011](#kraemer_simulation_2011);
[Winsberg 2019](#winsberg_computer_2019).
4.
Kontroversen und Diskussionen
Simulationen sind in der heutigen Praxis der DH noch eine
randständige Methode, die häufig eher theoretisch diskutiert als tatsächlich
angewendet wird.
Unter anderem diskutiert bei [Champion 2017](#champion_humanities_2017);
[Scheuermann 2022](#scheuermann_rolle_2022);
[Düring
2014](#duering_potential_2014). Im Anwendungsfall beschränkt sie sich vor allem auf
bestimmte Teilbereiche der DH und auf ganz bestimmte Methoden, etwa virtuelle
Simulation oder Agent-Based Modeling. Diskussionen und Kontroversen finden deswegen
oft noch eher isoliert statt, was ein grundlegendes Problem für die
Weiterentwicklung von Simulationen für die DH darstellt.
In den letzten Jahren werden konkrete Simulationsmethoden
hinsichtlich ihrer Eignung für geisteswissenschaftliche Forschungsvorhaben
diskutiert.
Vgl. z. B. [Gavin 2014](#gavin_agent_2014). Damit hängen Fragen zu den → erkenntnis[theoretischen](https://zfdg.de/wp_2023_013) Voraussetzungen von Simulationsmethoden zusammen. Die oft stark
algorithmisch-mathematisch geprägte Tradition vieler Simulationsmethoden stößt
hierbei auf das hermeneutische Selbstverständnis etlicher Teilbereiche der DH, was
laut Michael Gavin teils zu einem knee-jerk scepticism
–
also einem reflexhaften Skeptizismus – führt. [Gavin 2014](#gavin_agent_2014), Abs. 1. Völlig zu Recht
stellt sich aber die Frage, wie manche geisteswissenschaftlichen Konzepte und
Annahmen von Prozessen formalisiert werden können und sollten. Zentral sind
beispielsweise Möglichkeiten und Grenzen der Modellierung und der Formalisierung
menschlichen Handelns. Auch der Begriff des Prozesses selbst verdient weitere
Ausarbeitung, insbesondere im Gegensatz zu anderen geläufigen Grundlagenbegriffen
von Modellierungsmethoden in den DH, wie z. B. ›Ereignis‹ bzw. event.
[Schützeichel / Jordan 2015](#schuetzeichel_prozesse_2015).
Für die Geschichtswissenschaften stellt sich außerdem die Frage nach
dem Umgang mit sogenannten Simulationsdaten als Quellen, also durch das reine
Simulieren erzeugte Informationen. Vgl. z. B. [Nanetti / Cheong 2018](#nanetti_history_2018). Diese
können zwar in realweltlichen Quellen verankert sein, auf die sie auch Bezug nehmen,
sie sind aber letztendlich synthetische und somit nicht zweifelsfrei überlieferte
Daten.
Ein generelles Problem, das auch in anderen simulierenden
Wissenschaften diskutiert wird, ist die Frage, wie komplexe Simulationsmodelle und
deren Ergebnisse kommuniziert werden können. Zu diesem Zweck werden Standards wie
das ODD-Protokoll für agentenbasierte
Simulationsmodelle entwickelt, welche allerdings noch einer Übertragung in bzw.
Anpassung an die DH bedürfen. Vgl. z. B. [Grimm et al. 2020](#grimm_odd_2020).